Süden und das verkehrte Kind
wenn Sie wollen.«
»Und niemand hat in dieser Zeit angerufen?«
»Nein«, sagte er trotzig.
»Und du hast auch niemanden angerufen?«
»Nein.«
»Warst du im Zimmer deiner Schwester?«
»Was?« Er sah mich an und dann weg, starrte seine blauen Socken an.
»Warst du im Zimmer deiner Schwester, Fabian?«
»War ich nicht.«
»Ich glaube schon«, sagte ich. Er erwiderte nichts.
»So was macht er nicht«, sagte seine Mutter.
»Rufen Sie jetzt Ihren Mann nochmal an, Frau Kolb«, sagte ich.
»Der Typ hat hier nichts verloren!«, stieß Fabian hervor, sprang vom Stuhl und schlurfte mit zorniger Miene aus dem Zimmer. Ich hörte eine Tür schlagen und bald darauf dumpf klingende Rockmusik.
Matrimonia Kolb hatte wieder Tränen in den Augen. Sie wartete darauf, dass ich etwas sagte. Aber ich drehte mich um und ging vor die Haustür zu Martin.
3
» S chnelldurchlauf«, sagte Martin Heuer, weil er über nichts anderes sprechen wollte.
Wir standen am Fuß der Steintreppe, die zur Haustür führte, ähnlich wie bei den beiden Häusern rechts und links, die mit dem kleinen Vorgarten und der Treppe an einen englischen Baustil erinnerten. Die meisten übrigen Häuser in der von Laub und Nadelbäumen gesäumten Josephinenstraße wirkten klobig und gedrungen und wenn auch nicht protzig, so doch deutlich erkennbar als Eigentum nicht unvermögender Besitzer, deren gestalterische Individualität wie häufig bei privaten Hausplanern vor allem in der Baumasse und weniger in der Bauform zum Ausdruck kam. Vermutlich fanden sie betonumschlossene Balkone kuschelig und weiß lackierte schmiedeeiserne Gitter vor den Fenstern heimelig. Dennoch war es gewiss angenehm, hier zu wohnen, abseits des Stadtlärms, oberhalb des Flusses, nahe des grünen Münchner Südgürtels.
Jetzt, kurz nach Mitternacht, herrschte Stille auf den Grundstücken und der nach Norden hin abfallenden Straße, Autos parkten entlang der Bürgersteige und glänzten im milden Licht der Straßenlampen. Kein Mensch war unterwegs, hinter den meisten Fenstern war es dunkel. In wenigen Stunden würden Kombis und andere größere Fahrzeuge die Straße blockieren, Kamerateams und Reporter die Nachbarn herausklingeln und meine Kollegen und vielleicht ich selbst von Haus zu Haus ziehen und jeden noch so unbedeutend erscheinenden Hinweis notieren. Wie immer in solchen Fällen würde sich die engste Umgebung des verschwundenen Mädchens in eine Art öffentliche Kantine verwandeln, in der jeder Journalist, jeder Schaulustige, jeder, der nichts Besseres zu tun hatte, glaubte, verkehren zu dürfen und es sich bequem machen zu können, und in der das allgemeine Gelaber wie eine Volksverköstigung von Mund zu Mund ging, reihum, immer wieder von vorn. Und alles, was wir bisher auftischen konnten, waren Ratlosigkeit, Misstrauen, Zweifel und ein Übermaß an Fragen.
»Glaubst du ihr?«, fragte Martin.
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Sie lügt.«
»Hat sie mit dem Verschwinden ihrer Tochter was zu tun?«
»Natürlich.«
»Sie hat sie geschlagen.«
»Das wissen wir nicht.«
Martin steckte sich eine neue Zigarette an und schnippte die Kippe über den Zaun auf die Straße.
»Ist dem Mädchen was zugestoßen?«, fragte Martin.
»Wir wissen es nicht.«
»Warum sagt der Junge nichts?«
»Weil er etwas weiß.«
»Genau«, sagte Martin, rauchte, blickte zum Haus gegenüber, wo in einem der Zimmer ein blaues Fernsehlicht flackerte.
Dann schwiegen wir.
Ich ging zu unserem Dienstwagen, den wir an der Ecke zur Großhesseloher Straße geparkt hatten.
»Ich bin es«, sagte ich ins Autotelefon. Die Beifahrertür hatte ich offen gelassen.
»Kein Erfolg«, sagte Paul Weber am anderen Ende. Gemeinsam mit Sonja Feyerabend, Volker Thon und Oberkommissarin Freya Epp rief er jene Personen an, deren Namen mir Medy Kolb durchgegeben hatte, als Martin und ich auf dem Weg zu ihr waren. »Der Ehemann ist nicht zu erreichen. Aber ich hab mit einem Freund von ihm geredet…« Ich hörte das Rascheln von Papier und Stimmen. »Belut heißt der Mann, Hartmut, reines Glück, dass wir den erwischt haben, der Stammtisch hat heut nämlich nicht stattgefunden, Belut war nur so in der Kneipe. Er behauptet, Torsten Kolb und seine Tochter, das sei ein schwieriges Verhältnis, ich hab ihn gefragt, ob er das erklären kann, er meinte, sie würden sich einfach nicht verstehen, dauernd streiten…«
Ich sagte: »Hast du ihn auf Missbrauch angesprochen?«
»Nein, ich hab ihn herbestellt, morgen Früh um sieben,
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