Süden und der Luftgitarrist
gemeinsam hatten außer der Anzahl der Wände und der Finsternis an den Tagen absoluter Einsamkeit. Martin führte ein Leben unter den Schwingen des Alkohols und ich im Schutz arktischer Erinnerungen, und manchmal, nicht einmal so selten, gaben wir uns einer Außenwelt hin, die uns wie ein Trost empfing, und aus lauter Übermut verwandelten wir uns in zeitlose Geschöpfe. In dem Pensionszimmer wollte Martin nicht Luftgitarre spielen, er tat es, weil er auf die irrige Idee verfallen war, er könnte mich an seiner Überlebensphantasie teilhaben lassen und ich brauchte ihn bloß nachzuahmen und schon würde ich wie er für die Dauer eines Songs einen Zustand von Erlösung erreichen. Und da ich mich weigerte, gab er mir aus Wut über seine Aufforderung, die ihm unbegreiflich sein musste, an einem grundverkehrten Ort eine Vorstellung und verausgabte sich mehr als auf der Bühne im »Substanz«. Als hätte ich von ihm verlangt, eine Nacht mit Sonja zu verbringen, damit er nachvollziehen könne, warum ich ihre Nähe als Obdach empfand.
»Was ist denn jetzt mit meinem Sohn?«, sagte Mildred Loos.
»Das hab ich Ihnen am Telefon erklärt«, sagte Martin schnell.
»Edward ist nicht in die Pension zurückgekommen, das hab ich verstanden.«
»Er ist überhaupt nicht mehr zurückgekommen«, sagte Martin.
»Ich hab ihn nur ein einziges Mal gesehen, das war am Mittwoch, wie gesagt.«
»Es ist möglich, dass er seinen Bruder getroffen hat«, sagte ich.
»Aladin? Warum denn?«
Ich sagte: »Sie sind Brüder.«
»Halbbrüder«, sagte Mildred Loos. »Sie haben verschiedene Väter, sehr verschiedene Väter, und ich hab keinen Kontakt zu denen.«
»Und zu Ihren Söhnen?«, fragte Martin.
»Aladin hab ich seit ungefähr zwei Jahren nicht mehr gesehen und mit Edward telefoniere ich gelegentlich. Ich war überrascht, als er mich anrief und sagte, er wolle mich besuchen.«
»Gab es einen Grund für den Besuch?«, sagte Martin.
»Ja«, sagte Mildred Loos. »Er wollte wissen, ob Aladin eine neue Adresse hat, und mich nach ihm ausfragen.«
»Was macht Ihr Sohn Aladin?«, fragte Martin.
»Nichts mehr«, sagte sie.
Die Tasse war so heiß, dass ich sie auf den Tisch stellen musste. Martin machte sich Notizen und sah nicht von seinem Block auf.
»Bevor wir über Ihren zweiten Sohn sprechen«, sagte ich, »möchten wir wissen, welchen Eindruck Edward auf Sie gemacht hat. Können Sie sich an eine Bemerkung erinnern, die vielleicht mit seinem Verschwinden zu tun haben könnte?«
Mildred Loos drehte die Tasse in den Händen, trank einen Schluck, was mich wunderte, denn ich hatte mir fast die Zunge verbrannt, und stellte die Tasse auf dem Bücherstapel neben sich ab. »Er hat sich hauptsächlich nach Aladin erkundigt, das fand ich allerdings ungewöhnlich.«
»Warum?«, fragte ich.
»Weil er das sonst nie getan hat. Nur wenn ich ihm am Telefon von mir aus etwas erzählt hab, sonst hat er nie nach ihm gefragt. Ich weiß nicht, warum jetzt. Er mache sich Sorgen, sagte er, und er war richtig verärgert darüber, dass ich keinen Kontakt zu Aladin habe. Das war ein eher verwirrender Abend für mich. Was macht er hier in der Stadt? Luftgitarre spielen? Was ist das?«
»Er tut so als ob«, sagte ich.
»Wie Kinder?«
»Es gibt sogar Weltmeisterschaften«, sagte ich.
»Edward ist siebenunddreißig.«
»Er ist auch der Zweitälteste im Wettbewerb«, sagte Martin.
»Geht mich nichts an«, sagte Mildred Loos. »Er war zwei Stunden hier, wir haben gegessen, ich hab ein Steak mit Kartoffeln gemacht, dann ist er wieder weg.«
»Mit der Adresse seines Halbbruders«, sagte ich.
»Genau.«
»Er wollte ihn also besuchen.«
Sie überlegte eine Weile. »Gesagt hat er das nicht. Merkwürdig. Ich hab ihn gefragt, und er hat nur gesagt, wenn er schon in der Stadt sei, wäre das doch eine gute Gelegenheit.«
»Sie wissen nicht sicher, ob er nach dem Besuch bei Ihnen zu Aladin gefahren ist«, sagte ich.
»Nein.«
»Aladin heißt auch Loos mit Nachnamen?«, sagte Martin.
»Toulouse«, sagte Mildred Loos. »Klingt ähnlich, ist aber ganz anders.«
»Wie meinen Sie das?«, sagte ich.
»Bitte?«
Ich schwieg.
»Trinken Sie Ihren Kaffee nicht?«, sagte sie. Den Cappuccino hatte ich vergessen. Ich hielt die Tasse an die Lippen, sie war so heiß wie vorher. Mildred Loos hatte ihren Kaffee schon zur Hälfte ausgetrunken.
»Aladins Vater ist Franzose«, sagte sie zögernd. »Er lebt heute auf der Belle Ile, das ist eine Insel vor der Bretagne, betreibt
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