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Süden und der Luftgitarrist

Süden und der Luftgitarrist

Titel: Süden und der Luftgitarrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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den hohen Wangenknochen, nicht alt, eher interessant, auch ein wenig stolz wirken ließ. In einem schwarzen Hosenanzug, dabei barfuß, eilte sie von der Küche ins Wohnzimmer und wieder zurück, stellte eine Vase weißer Tulpen, die sie vom Einkauf mitgebracht hatte, auf ihren Schreibtisch, nachdem sie die Vase mit zum Teil verwelkten roten Rosen weggenommen und drei davon in einem Glas in der Küche gelassen hatte. Daraufhin musste sie dringend drei E-Mails beantworten, bevor ihr einfiel, dass sie vergessen hatte, einen Artikel aus der Zeitung auszuschneiden, die bereits im Weidenkorb beim Altpapier lag. Wenn man sie beobachtete, hätte man annehmen können, dass Stillsitzen für sie eine Art Strafe oder eine elementare Sinnlosigkeit darstellte oder dass sie unter Schüben von Hypernervosität litt, was wahrscheinlich nicht zutraf, schon deshalb nicht, so vermutete ich, weil sie hauptberuflich als Souffleuse arbeitete, und zwar seit zwanzig Jahren. Als wir in der Wilderich-Lang-Straße parkten, wo sie wohnte, kam sie gerade mit zwei vollbepackten Einkaufstüten vor dem Haus an, und wir nahmen sie ihr ab. Sie rannte geradezu in den vierten Stock hinauf, wir schleppten uns aufrecht hinterher.
    »Entschuldigung«, sagte sie zum wiederholten Mal. »Ich hab morgen und übermorgen Kurs und dauernd verleg ich meine Notizen.« Sie verschwand im Badezimmer und kehrte mit zwei großen Blocks und einem dicken Buch zurück, legte die Sachen zu einem Stapel auf der gemusterten Couch, die mich an jene in der Pension »Stefanie« erinnerte, setzte sich und sah Martin und mich abwechselnd an. Martin hatte ebenfalls einen Din-A4- Block vor sich liegen und klopfte seit einigen Minuten ungeduldig mit dem Kugelschreiber darauf.
    Dann bemerkte ich, wie sich Mildred Loos mit ihren Blicken wieder über meine Figur hermachte.
    »Sie sind dem Schwarzen Roland wie aus dem Gesicht geschnitten«, sagte sie.
    »Wer ist das?«, sagte ich.
    »Das ist die Hauptfigur in dem Stück ›Das Geständnis‹, mit dem wir gestern Premiere hatten, es wurde Ende des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben, aber es ist immer noch modern. Es geht um einen Einsiedler, der beschuldigt wird, ein Mädchen vergewaltigt zu haben.«
    »Hat er es getan?«, sagte ich.
    »Am Ende legt er ein Geständnis ab.«
    »Ja«, sagte ich, »aber hat er es getan?«
    »Ich war auf Ihre Reaktion gespannt, ich dachte mir, ein Thema wie Geständnis müsste sie herausfordern.«
    »Was meinen Sie mit ›herausfordern‹?«
    »Nur ein Spiel«, sagte sie und stand auf. Eigentlich sprang sie auf. »Möchten Sie einen Kaffee? Ich mach mir einen löslichen Cappuccino, trinken Sie so was?«
    »Unbedingt«, sagte ich.
    »Sie auch?«
    »Jetzt nicht«, sagte Martin.
    »Verraten Sie uns das Ende des Theaterstücks?«, sagte ich.
    »Im Laufe der Verhöre hat er das Schicksal des Mädchens kennen gelernt, er begreift die Lage, die Verzweiflung, in der sie sich befindet, und er will sie erlösen, er nimmt die Tat auf sich. Er gesteht die Vergewaltigung , die er nicht begangen hat, und wird gehängt. Aber das Mädchen ist nicht erlöst, es stürzt sich in eine Schlucht. Eine fürchterliche Art sich umzubringen, so ähnlich wie sich vor die U-Bahn zu werfen, Sie verunstalten Ihren Körper mit dem Tod, Sie wollen ihn in Stücke reißen. Auf jeden Fall: Viel Text. Und ich darf Ihnen verraten, unser Hauptdarsteller hatte gestern einige Hänger, er ist neu im Ensemble, zu Beginn der Probenzeit war er krank, die Rolle hat ihn arg mitgenommen, ich fand es aufschlussreich, diesen Prozess mitzuerleben. Wollen Sie jetzt einen Cappuccino?«
    »Ja«, sagte ich.
    Nachdem sie in der Küche Wasser aufgesetzt und Kaffeepulver in den Tassen verteilt hatte, kam Mildred Loos zu uns zurück. Während sie draußen gewesen war, hatten Martin und ich kein Wort gewechselt, zwischen uns lag eine Irritation, von der wir beide überfordert waren, die wir, mitten in einer Vernehmung, nicht zulassen durften und die uns deshalb umso mehr umtrieb. Es war, als hätten wir in dem Pensionszimmer mit dem leeren Gitarrenkoffer eine Wirklichkeit von uns preisgegeben, die der andere zwar kannte und herzensnah akzeptierte, doch ausschließlich und unausgesprochen in der Schönheit des Abstands. Bisher hatten wir unsere Wirklichkeiten nie verwechselt oder den anderen damit herausgefordert. Unsere Freundschaft, die bestand, seit wir laufen konnten, war ein Einklang von Unterschieden, wir bewohnten zwei Zimmer im selben Haus, die nichts

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