Süden und der Luftgitarrist
ohne sich hinzusetzen.
»Sagen Sie mir bitte die Nummer von Ihrem Sohn Aladin, ich muss wissen, ob er zu Hause ist.«
»Die weiß ich nicht auswendig«, sagte sie. In ihrer eigentümlichen Hastigkeit schob sie auf dem Schreibtisch Blätter und Mappen hin und her, zog eine Schublade auf, tastete darin herum. »Wo ist mein Telefonbuch? Ich habe es heut schon gebraucht. Ach!« Mit einer abrupten Drehung verschwand sie aus dem Zimmer.
»Ich habe Hunger«, sagte ich.
Martin erwiderte nichts. Mir schien, er hätte gern ein Bier getrunken, er hatte Schweißtropfen auf der Stirn und zog die Schultern hoch wie jemand, der unter starker Anspannung leidet. Sogar auf die Entfernung konnte ich die hervorquellenden Adern auf seiner rissigen, dunkelrot gefärbten Nase erkennen.
»In der Manteltasche!« Mildred Loos hielt ein in rotes Leder gebundenes Adressbuch hoch. Sie nannte mir die Nummer.
»Mein Name ist Tabor Süden«, sagte ich ins Telefon.
»Ich bin von der Kriminalpolizei, ich möchte mit Aladin Toulouse sprechen.«
Die Stimme am anderen Ende klang heiser, es war schwer zu schätzen, wie alt der Mann sein mochte. »Was ist passiert?«
Ich sagte: »Mit wem spreche ich?«
»Der Aladin ist nicht da.«
»Wo ist er?«
»Weg.«
»Und was machen Sie in seiner Wohnung?«
»Ich?«, sagte der Mann.
»Sagen Sie mir bitte Ihren Namen.«
»Wieso? Distel. Was ist los? Hat er was angestellt?« Jetzt hörte ich die Stimme einer Frau im Hintergrund.
»Sei still!«, rief Distel ihr zu. »Und Sie?«, sagte er zu mir.
»Wer sind Sie? Kripo?«
»Tabor Süden, Vermisstenstelle.«
»Ist er vermisst, der Aladin?«
»Was wollen die Bullen von dir?«, hörte ich die Frau sagen.
»Was machen Sie in seiner Wohnung?«, wiederholte ich.
»Ich wohn hier. Mit meiner Freundin.«
»Sie wohnen mit Aladin zusammen«, sagte ich.
»Der ist schon lang nicht mehr aufgetaucht«, sagte Distel.
»Schon ein Jahr nicht mehr. Stimmt doch, Bille, oder? Ein Jahr haben wir den nicht mehr gesehen.«
»Wo ist er denn?«, sagte ich.
»Weg. Er hat nichts gesagt. Das ist sein Haus, er kann damit machen, was er will, wir wohnen da, wir sind reguläre Mieter.«
»Stimmt«, sagte die Frau im Hintergrund.
»Sie haben ein Jahr lang nichts von Aladin gehört?«, sagte ich.
»Sag ich doch.«
»Und das hat Sie nicht gewundert?«
»Doch«, sagte Distel. »Doch. Doch.«
Ich kürzte sein langwieriges Grübeln ab. »Bleiben Sie bitte zu Hause, wir kommen in zwei Stunden bei Ihnen vorbei.«
»Wieso vorbei?«, sagte er. »Ich hab keine Zeit, ich muss weg, ich hab eine Verabredung.«
»Verschieben Sie sie bitte«, sagte ich.
»Das geht nicht! Da gehts um einen Job, ich muss mich vorstellen, ich muss da hin!«
»Dann sagen Sie, Sie müssen eine Aussage bei der Polizei machen.«
»Tolle Idee!«, sagte er laut. Gleichzeitig sagte seine Freundin etwas, das ich nicht verstand. »Das kommt gut an, Aussage bei der Polizei! Danke für den Vorschlag, ganz toll!«
»Wir müssen mit Ihnen sprechen, und zwar in Ihrer Wohnung«, sagte ich.
»Wir können jetzt am Telefon reden«, sagte er.
»Nein«, sagte ich. »Bleiben Sie, wo Sie sind, sonst schicke ich Ihnen eine Streife vorbei und die Kollegen passen auf Sie auf.«
»Sind Sie arbeitslos oder ich?«
Nachdem ich mich von ihm verabschiedet hatte, rief ich in der Zentrale an und bestellte einen Streifenwagen zur Adresse von Aladin Toulouse, die Kollegen sollten nichts weiter tun als warten und Distel und seine Freundin zurück ins Haus begleiten, falls die beiden die Absicht hätten wegzufahren.
»Kennen Sie diese Mieter?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Mildred Loos. Sie drehte uns den Rücken zu und schlug zum zweiten Mal die Hände vors Gesicht.
Mit neunzehn Jahren spielte Aladin Toulouse zum ersten Mal in der Bundesliga, mit einundzwanzig wechselte ihn der Bundestrainer in der zweiten Halbzeit eines Länderspiels gegen England ein, mit zweiundzwanzig unterschrieb er einen Dreijahresvertrag beim FC Bayern München, in dessen F-Jugendmannschaft er begonnen hatte, mit vierundzwanzig stand er zum letzten Mal auf dem Rasen eines Stadions.
»In den vier Jahren danach«, sagte Mildred Loos , »wurde er, wenn ich mich nicht täusche, siebzehnmal operiert, an den Bändern, am Meniskus, an der Schulter, an den Zehen, an der Wade, jedes Mal, wenn er wieder einigermaßen laufen konnte und vorsichtig mit dem Training anfing, passierte wieder etwas. Außerdem hatte er ständig Probleme mit den Zähnen, Parodontose,
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