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Süden und der Luftgitarrist

Süden und der Luftgitarrist

Titel: Süden und der Luftgitarrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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würde.
    Laute Rockmusik schreckte mich auf. Martin hatte einen Ghettoblaster, der neben dem Bett stand und mir bisher nicht aufgefallen war, eingeschaltet. Den Song hatte ich vor vier Tagen schon einmal gehört, zu Beginn des Wettbewerbs im »Substanz«. Edward Loos war dazu über die Bühne gesprungen und hatte mit seiner Darbietung locker die zweite Runde erreicht.
    »Spiel!«, sagte Martin. »Zeig, ob du es auch kannst.« Augenblicklich traute ich mich nicht. Wie ein Junge, der oben am Skihang steht und allmählich vor Furcht vereist.
    Durch das offene Fenster hörte ich das Hupen und das scharrende Geräusch durchdrehender Räder und aufheulende Motoren, während der Sänger kreischte und die elektrischen Gitarren dröhnten.
    Regungslos stand ich am Fenster, drei Meter von Martin entfernt, der die Arme angewinkelt hochhielt, die Hände zu Fäusten geballt, eine Geste, mit der er jeden seiner Auftritte im »Substanz« eröffnet hatte.
    »Furchtbarer Song«, sagte ich.
    »Du lügst«, sagte er.
    Er hatte Recht. Wahrscheinlich war der Song furchtbar, aber er hatte mir sofort gefallen, als The Vagabond damit loslegte.
    »Genierst du dich?«, fragte Martin. Ich schwieg.
    Eine Minute lang hörten wir Tommy Lee zu. Dann riss sich Martin seine Bomberjacke vom Leib, warf sie aufs Bett, hob seine Luftgitarre vom Boden auf und fing an zu spielen. Seine Finger sausten über das Griffbrett, die rechte Hand schlug den Rhythmus, hart und gleichbleibend, er drehte sich im Kreis, stieß mit den Beinen in meine Richtung, warf den Kopf nach hinten, fletschte die Zähne, bewegte ebenso schnell wie seine Finger die Saiten wechselten den Oberkörper vor und zurück, zuckte mit der Schulter, ließ sich gegen die geschlossene Tür fallen, glitt zu Boden, spielte in der Hocke weiter, stapfte mit den Schuhen dazu, sprang hoch, spielte mit wahnwitziger Technik ein Solo, bei dem seine Finger sich gegenseitig zu überholen schienen, ließ den Arm für Sekunden sinken, während die rechte Hand wie unter Stromstößen weiterzuckte, strich dann mit gestrecktem Zeigefinger über den gesamten Gitarrenhals, stöhnte vor Erschöpfung, presste einen rhythmischen Donner aus sich heraus, der ihm alle Kraft abverlangte, knickte die Finger der linken Hand, als schärfe er Krallen an Holz, starrte noch einmal in die Ferne, wie aus blankem Entsetzen über die ins Nichts galoppierenden Klänge seines geschundenen Instruments, verharrte in dieser Stellung, und durch den dünnen abgetragenen Rollkragenpullover sah ich sein Herz schlagen, als trommele eine Faust verzweifelt von innen her, und nach dem letzten Riff, der seine Hände explodieren ließ, schleuderte er mit weit ausholender Gebärde die Gitarre an die Wand. Anschließend drückte er mit dem Schuh den Aus-Knopf am Recorder, der umkippte. Und eine Lawine aus Stille begrub Martin unter sich. Er rang nach Luft und bückte sich, und es sah aus, als müsse er sich übergeben. Mit weit geöffnetem Mund, unendlich mühsam, richtete er sich auf, betrachtete das Zimmer wie eine fremde Umgebung und hielt sich für einige Momente die Ohren zu. Er kam auf mich zu, sah mich, das Gesicht von Schweiß verklebt, aus müden verirrten Augen an, stieß mich beiseite, ging zum Fenster und steuerte zum Straßengetöse ein grässliches Husten bei.
    Während der halbstündigen Fahrt in den Stadtteil Neuhausen sprachen wir kein Wort. Ich saß auf der Rückbank, mit verschränkten Armen, und sah mich einen Hang hinunter steigen, fröstelnd, mit Skiern auf der Schulter.
    »Sie!«, sagte sie und betrachtete mich vom Kopf bis zu den Stiefeln. »So wie Sie aussehen!« Wieder zeigte sie mit der Hand auf meine Haare, die mir seit einiger Zeit fast bis auf die Schulter fielen, auf mein weißes Leinenhemd und die schwarze, an den Seiten geschnürte Lederhose.
    »Sie wären eine Idealbesetzung, vom Optischen her auf jeden Fall. Auch das Gewicht stimmt.« Bei meiner Größe von einem Meter achtundsiebzig gab es niemanden, mich eingeschlossen, der das Gewicht von knapp neunzig Kilo stimmig fand.
    »Danke«, sagte ich.
    »Die Inszenierung ist sehr gut, Sie sollten mal reingehen.« Sie zeigte auf den freien Stuhl am Tisch, auf dem anderen saß bereits Martin Heuer. Ich sagte: »Ich stehe lieber.«
    Mildred Loos war achtundfünfzig Jahre alt, sehr schlank, zumindest verglichen mit mir, ihre Haare, die sie kurz und im Nacken stoppelartig geschnitten trug, waren vollständig ergraut, was sie aber, auch wegen ihres schmalen Gesichts mit

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