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Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Titel: Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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verschwand wieder. Soweit sich die beiden Frauen, die ähnliche Auftritte ihres Chefs schon kannten, an jenen Tag erinnern konnten, war es kurz nach drei, als K. »mit einer Fahne und einem peinlichen Knutschfleck am Hals hereingeschneit« sei. Eine Woche nach K.s vorerst letzter Vernehmung erschien in einer der beiden Lokalzeitungen ein Bericht, in dem über das Verhältnis des Friseurs mit der Frau des Kämmerers spekuliert wurde. Jagoda hatte auch diesen Artikel kopiert und beigelegt, da er K. für einen bösartigen Lügner hielt, den die Polizei aus Gründen, die ihm vollkommen schleierhaft seien, mit Samthandschuhen anfasse und letztendlich laufen gelassen habe .
    Nach und nach bröckelte die Glaubwürdigkeit der Zeugin, da sich an jenem Nachmittag viele auswärtige Familien mit Kindern auf oder entlang der Prälat-Kremer-Straße aufgehalten und einige von ihnen Autofahrer nach dem Weg zum Schwimmbad gefragt hatten. Trotz angestrengten Nachdenkens gelang es der Zeugin nicht, eine einigermaßen brauchbare Beschreibung des Mädchens zu geben, abgesehen von der angeblich dunklen Haarfarbe. Vielleicht war sie nicht einmal dunkelhaarig .
    In meinen zwölf Jahren bei der Vermisstenstelle im Dezernat 11 lernte ich geduldig und nachsichtig zu sein, wenn jemand seinen nächsten oder am meisten geliebten Menschen, der verschwunden war, beschrieb und sich bald herausstellte, dass dieser ganz anders aussah, anders redete und dachte, anders empfand als der, für den man ihn in seiner Umgebung hielt. Leicht gesagt. Bei der Suche nach einem zehnjährigen Mädchen schöpften wir unsere Zuversicht aus jeder plausibel klingenden Zeugenaussage. Und wir waren alles andere als geduldig und nachsichtig, wenn wir wieder einmal nur Zeit verloren hatten. Die Zeit war unser Todfeind bei jeder Vermissung.
    Einige Medien also ließen einen Verdächtigen nicht mehr aus ihren Fängen, den meine Kollegen schon längst nicht mehr für verdächtig hielten und nur eine kurze Zeit lang – zu Recht, wie sich zeigte – für einen verlogenen Zeugen gehalten hatten. Doch weil kein neuer Verdächtiger auftauchte, geriet K. weiter unter den Druck der öffentlichen Meinung, was dazu führte, dass er sein Geschäft zusperrte und abtauchte. Angeblich, so las ich in Jagodas Akten, sei er nach Aufenthalten in München und anderen Städten mittlerweile nach Taging zurückgekehrt, verlasse seine Wohnung aber nur noch bei Nacht .
    Obendrein sei er pleite .
    Ich war mit Nikolaus Krapp in die Volksschule gegangen, er war ein schmaler, bleichgesichtiger Junge, der die kürzesten Haare in der Klasse hatte, und wir hatten alle sehr kurze Haare. Wir waren nie Freunde, aber ich glaubte mich zu erinnern, dass Martin und er oft gemeinsam mit Pfeil und Bogen auf die Jagd gingen, wonach, hatte ich vergessen.
    Am Ende seines Ordners hatte Jagoda Klarsichthüllen mit fünf Zeichnungen seiner Tochter eingeheftet. Als ich sie im Schwimmbadrestaurant betrachtete, fand ich sie interessant und lebendig. Wolken im Sturm, falls ich das Motiv richtig erkannte, Männer, die ihre Hüte festhielten, Frauen mit hochgeschlagenen Röcken, rennende Kinder, fliegende Kühe und andere, weniger eindeutige Tiere .
    Auf einem Bild war nur ein Mann zu sehen, der neben einem großen schwarzen Haus stand, reglos, wie mir schien, statisch wie das Gebäude. Sein Gesicht bestand aus schwarzen kleinen Augen, einer schwarzen Strichnase und einem schwarzen Strichmund. Er trug einen bodenlangen schwarzen Umhang, unter dem seine Schultern ausladend wirkten, viel zu breit und wuchtig für den unscheinbaren Kopf. Arme und Beine waren nicht zu sehen.
    Doch erst als ich eine Stunde lang über den asphaltierten Parkplatz oberhalb des Bootsverleihs schlenderte, den Ordner im Arm, begleitet von vier Kindern, die von irgendwoher aufgetaucht waren, erinnerte mich die Gestalt an jemanden, und ich wusste nicht, wieso. Plötzlich musste ich an den über den geöffneten Müllcontainer gebeugten Mann auf dem Friedhof denken, an seinen Mantel, der weit an ihm herunterhing, an etwas Dunkles, das er ausstrahlte. Ich wollte Severin Jagoda unbedingt fragen, ob er wusste, wen seine Tochter mit der Zeichnung gemeint hatte.
    Das Bild des Mannes am Container ging mir nicht mehr aus dem Kopf.

3
    D ie Kinder wichen nicht von meiner Seite. Es waren drei Mädchen und ein Junge, der stumm blieb, während seine Begleiterinnen unaufhörlich redeten und mir gelegentlich wie nebenbei oder aus Versehen Fragen stellten. Ob ich etwas

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