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Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Titel: Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Nach einem von Tränen und trotziger Auszeit hinter verriegelter Badezimmertür unterbrochenen Disput erklärte sich Anna mit einem Vorschlag ihrer Mutter einverstanden. Anstatt wie verabredet den Nachmittag im Schwimmbad zu verbringen, sollten die beiden Mädchen am Taginger See gemeinsam Eis essen – »Weil, mein Hals ist wieder ganz schön normalrot«, sagte Anna den Aufzeichnungen ihres Vaters zufolge – und hinterher noch eine Stunde bei Esther spielen. Um sich nicht zu überanstrengen, sollte Anna daraufhin nach Hause zurückkehren. Die Wohnungen der beiden Familien waren eine knappe halbe Stunde voneinander entfernt, der Weg führte weitgehend an der Hauptstraße entlang, mitten durchs Dorf – eine Entfernung, auf der niemand Bedenken hatte, ein Kind allein gehen zu lassen. Das Gleiche galt für die Strecke vom Finkenweg zum See, einen sanften Hügel hinunter, nahe des Kindergartens an der Prälat-Kremer-Straße und der von Ausflüglern und Touristen gut besuchten Gaststätte »Sonnfels«, auf einem geteerten Weg, den Fußgänger und Radfahrer gleichermaßen nutzten.
    Da Anna um vierzehn Uhr fünfzig das Haus verlassen hatte, hätte sie – vergnügtes Trödeln oder die Begegnung mit einem Bekannten eingerechnet – spätestens um fünfzehn Uhr die Bank beim Kiosk erreichen müssen. Vermutlich ließ sie sich tatsächlich Zeit, denn sie wusste, dass Esther, egal, was diese versprochen hatte, niemals pünktlich sein würde, jede ihrer Freundinnen kannte Esthers ewiges Zuspätkommen, und sie hassten sie dafür .
    Esthers Verhalten hatte die Mädchen so weit gebracht, sogar vor Verabredungen, an denen Esther nicht beteiligt war, zu fragen, ob die anderen zu normaler Zeit oder zu Estherzeit kommen würden.
    Solche Details erfuhr ich aus den Notizen von Severin Jagoda, Hintergründe, Eigenschaften von Erwachsenen und Kindern, Vermutungen, Protokolle von Beobachtungen, wie von einem Privatdetektiv. Aber die dramatischen Lücken konnte er mit seinen Wörterbeschwörungen nicht schließen.
    Vermutlich wäre Anna auf die Minute genau eine Stunde später aufgebrochen, wenn Esther nicht spontan aus dem Schwimmbad angerufen und den Termin vorverlegt hätte. Demnach schied eine geplante Entführung mit größter Wahrscheinlichkeit aus. Abgesehen davon fanden meine Kollegen nicht das geringste Motiv, das eine derartige Tat in den Bereich des Möglichen gerückt hätte .
    Außer Esther, Anna und deren Eltern wusste niemand von der neuen Verabredung. Die Jungen, die Esther genervt hatten, tummelten sich alle noch im Freibad, als Annas Eltern bereits auf dem Weg zum Kiosk waren, von dem aus Esther sie mit ihrem Handy angerufen hatte, weil sie seit zehn Minuten auf ihre Freundin warte, die doch sonst nie unpünktlich sei.
    Esther war fünf Minuten vor halb vier am Kiosk eingetroffen, fünfundzwanzig Minuten später als versprochen .
    KEIN MENSCH, schrieb Severin Jagoda in Großbuchstaben, wollte Anna gesehen haben. Die Anzahl der Passanten – Leute auf den Bänken, Spaziergänger, Autofahrer, die gerade ihren Wagen parkten oder einstiegen, Hundebesitzer, Ruderboot- und Tretbootfahrer – hatte der Lehrer in seinem Ordner exakt notiert: achtundsiebzig .
    Achtundsiebzig potenzielle Zeugen, und keiner konnte sich an das Mädchen mit der schwarzen Meckifrisur im hellgrünen Rolli erinnern. Mit den Personen, die meine Kollegen noch am selben Nachmittag und Abend befragten, stieg die Zahl auf neunundachtzig .
    Auf einer Strecke von etwa fünfhundert Metern am helllichten Nachmittag an einem sonnigen Samstag in unmittelbarer Nähe einer der meistbesuchten Stellen des Dorfes Taging ging Anna Jagoda unbemerkt verloren .
    Und noch ein Jahr später fehlte jede Spur von ihr .
    Ein Jahr später war »das Unvorstellbare« zu etwas noch Unvorstellbarerem geworden, zu einer Unmöglichkeit, zu einer Absurdität, zu einem Witz, dem traurigsten der Welt.
    Ich zählte mit: Elfmal tauchte in Jagodas Bewertung der Ereignisse am Schluss seines Ordners das Wort Witz auf, jedes Mal in Großbuchstaben: EIN WITZ .
    Natürlich hatten meine Kollegen den Radius erweitert: Vielleicht war Anna nicht den Weg zum See gegangen, sondern in eine andere Richtung spaziert, vielleicht, weil sie wusste, ihre Freundin würde sowieso vor halb vier nicht auftauchen. Vielleicht, weil sie nach den trägen Tagen im Bett ein wenig herumtollen wollte, auf einer der Wiesen in der Nähe, auf dem kleinen Spielplatz vor der Gaststätte »Sonnfels«, auf einer wenig befahrenen

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