Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel
lese praktisch nie, nur das, was unvermeidlich für die Schule war, allenfalls lasse er sich von seiner Mutter vor dem Schlafengehen zwei oder drei Seiten vorlesen, aber eigentlich auch nur, weil sie so viel Freude daran habe und glaube, er würde dann schöner träumen.
Ob Jagoda gegenüber Anna gewalttätig geworden sei, konnte Peter nicht bestätigen, gut behandelt habe er sie jedenfalls nicht, genauso wenig wie ihn. Jagoda sei ein gemeiner Lehrer, der sich dafür räche, wenn man ihn nicht grüßte oder ihm widersprach oder auf dem Pausenhof seine Vorschriften nicht beachtete, zum Beispiel das Spielen mit dem Gameboy nicht unterließ .
Während er in Gegenwart der Mädchen eher verdruckst gewirkt hatte, hörte er jetzt nicht mehr auf zu reden und den Kopf zu recken, als tauche im Hintergrund gerade der verhasste Lehrer auf. Mehr und mehr gerieten seine als Beweise für ein Verbrechen gedachten Anschuldigungen zu unglaubwürdigen, einer gekränkten Kinderseele entsprungenen Unterstellungen. Nach einer halben Stunde, während ich ihm zugehört und ab und zu eine Frage gestellt hatte, verabschiedete ich mich von Peter .
Die Tatsache, dass sich Severin Jagoda zum Zeitpunkt des Verschwindens seiner Tochter zu Hause aufgehalten hatte, erwähnte ich gegenüber dem Jungen absichtlich nicht. Nicht nur Jagodas Frau stützte das Alibi. Entscheidend waren zwei Telefongespräche, die der Lehrer von seinem Festnetz aus mit einem Kollegen geführt hatte, das erste kurz nachdem Anna das Haus verlassen hatte, fünf Minuten vor drei, und das zweite achtzehn Minuten nach drei, als der Kollege Unterlagen des Ministeriums herausgesucht hatte und wie angekündigt bei Jagoda anrief, um mit diesem über eine dringende Angelegenheit zu diskutieren. Das dauerte fast eine halbe Stunde, weswegen Esther bei ihrem Anruf erst einmal verschnupft reagierte, weil sie glaubte, Anna blockiere wieder stundenlang die Leitung und habe sie am See einfach vergessen.
Nichts deutete auf Jagoda als Täter hin. Wie überhaupt niemand aus dem familiären Umfeld im Verlauf der Ermittlungen Zweifel an seiner Integrität aufkommen ließ oder Widersprüche hervorrief.
Ein großer unsichtbarer Unbekannter geisterte durch das Viertausend-Einwohner-Dorf. Und auch wenn die Sonderkommission inzwischen vom ehemaligen Feuerhaus in das für örtliche Kapitalverbrechen zuständige Kreisstadtdezernat umgezogen war, wusste ich aus Erfahrung, dass die Beamten in der Taginger Polizeiinspektion weiterhin unermüdlich Zeugenaussagen und andere Informationen ausweiteten und abglichen und dass vermutlich im Augenblick aus Anlass des ersten Jahrestages intensive Vorbereitungen für eine Pressekonferenz liefen, die bundesweit in die Schlagzeilen geraten würde .
»Anna seit einem Jahr verschwunden, und die Polizei steht mit leeren Händen da.« Ich sah die Überschriften schon vor mir, jeder in der Soko sah sie vor sich, und die Hinweise auf die geleisteten Fahndungsmaßnahmen würden unter einer Lawine aus aggressiven Fragen und abschätzigen Kommentaren begraben werden.
Suchhunde und Hundertschaften – bravo, und wozu? Taucher, Waldarbeiter, Wärmebildkameras und Hubschrauber – bravo, und wozu? Handzettel, Plakate, Aufrufe im Fernsehen – bravo, und wozu? Der einzige Tatverdächtige läuft immer noch frei herum! – Der Mann ist nicht tatverdächtig, das wissen Sie genau und trotzdem … – Herr Kommissar, wieso gelingt es Ihnen nicht, die Dorfbewohner zum Sprechen zu bringen, was Sie uns da präsentieren, ist ja, bei allem Respekt, ein Witz! Warum, fragte ich mich auf dem Rückweg vom See, beharrte Jagoda auf seiner Behauptung, die Schuld am Verschwinden seiner Tochter trage jemand aus der Gemeinde, kein Fremder, keiner, der zufällig Annas Weg kreuzte?
Und wovor fürchtete sich das kleine Mädchen mit der Meckifrisur? Denn wenn ich auch den Anschuldigungen des Jungen vom Parkplatz nicht traute, seine Beobachtungen von Annas Verhalten hielt ich für realistisch .
Etwas hatte das Mädchen niedergedrückt, etwas zwang sie, nur schwarze Bilder zu malen, etwas hielt sie von ihren Mitschülern fern, etwas machte sie ausschließlich mit sich selber aus.
»Da irren Sie aber sehr!«, sagte Severin Jagoda, als ich ihm den Ordner zurückgab und ihn auf meine Überlegungen ansprach. »Anna ist kein bedrücktes Kind, sie zieht sich manchmal zurück, aber das bedeutet nichts .
Darf ich Ihnen ein Bier anbieten?«
Ich trank Wasser, Jagoda ein alkoholfreies Bier, wir saßen
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