Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel
die die ganze Nacht aufhaben, und schlafen bei Freundinnen. Ich kann nicht mal sagen, dass Sabrina irgendwie verändert zurückkommt. Ich versteh sie einfach nicht, sie schottet sich ab, wenn ich sie was frage. Dann denk ich mir, solange sie die Schule schafft … Sie geht in die neunte Klasse, ihre Noten sind passabel … Sie muss jeden Tag vierzig Kilometer mit dem Bus fahren, zwanzig hin, zwanzig zurück, ist schon ein Schlauch … Das interessiert Sie gar nicht, entschuldigen Sie, ich hab die ganze Nacht nicht geschlafen. Und ich wollt ja auch gar nicht, dass Sie mitkommen, um Ihnen von meiner Tochter zu erzählen. Ehrlich nicht, Herr Süden …«
»Das ist alles in Ordnung«, sagte ich .
Mit einer abrupten Bewegung beugte sie sich vor und ließ den Kopf hängen. Leise begann sie zu weinen. Als sie den Kopf hob, war ihr Gesicht nass von Tränen. Sie bemühte sich, deutlich zu sprechen, jedes Wort kam zögernd, unter großer Anstrengung über ihre Lippen. »Ich hab nichts gewusst … das müssen Sie mir glauben … Ich bin fast gestorben … heut Nacht … vor Schreck und … Scham … Und Scham, ja … Deswegen bin ich zum See gefahren, endlich … Endlich, ja …« Sie presste die rechte Hand vor den Mund, nahm sie lange nicht weg. »Warum hat er das getan? Warum hat er das kleine Mädchen getötet? Er hat sie erstickt, so stehts im Testament. Oder wie würden Sie das nennen? Ein Geständnis! Ja, in seinem Geständnis steht, er hat das Mädchen erwürgt und vergraben. Und dann hat er ein Jahr lang so weitergelebt wie immer. Wie immer, ja. Ja.«
Mit vor Fassungslosigkeit geröteten Wangen sah sie mich an. »Und ich hab geglaubt, er hat sich erhängt, weil ich das alles nicht mehr ertragen hab. Ertragen wollt . Weil ich keinen Sinn mehr in unserer Beziehung gesehen hab, war sowieso nur platonisch, ja. Wir haben ja nie zusammen geschlafen. War alles nur …« Sie schluchzte laut und senkte erschrocken den Kopf. Dann begleitete ein verkrampftes, hilfloses Lächeln ihre Worte. »Und ich hab geglaubt, er hat sich … aus Liebe … aufgehängt, ja … Wegen der Liebe, die ich ihm … weggenommen hab, wie er sich ausgedrückt hat. Ich hätt ihm die Liebe weggenommen, ja.«
Sie schniefte, griff neben sich auf die schmale Holzbank und zog eine Packung Taschentücher unter einem Kissen hervor.
»Pfarrer Wild und Sie hatten gar kein Verhältnis«, sagte ich.
»Nein«, sagte Lieselotte Feininger, tupfte sich mit dem zusammengeknüllten Papiertuch Nase und Mund ab und vergrub es in der Faust. »Wir haben uns nur geliebt.«
»Und Sie haben die Liebe beendet.«
»Ich darf Ihnen das verraten …« Sie blinzelte und strich das Kleid glatt. »Ich will hier wegziehen. Mit Sabrina. In die Stadt, nach München. Ich bin fünfundvierzig, und ich hab die letzten acht Jahre damit verbracht, eine platonische, heimliche Beziehung zu einem Pfarrer zu haben . Platonisch allein wär schon Grund genug abzuhauen . Aber ein Pfarrer und platonisch, das ist die Krönung vom Einsamsein. Wenn ich nicht bald hier rauskomm, häng ich mich auf, wie er.«
Tränen schossen ihr in die Augen, und sie wusste nicht, wohin mit ihren Armen. Sie streckte sie von sich, neigte den Kopf, wollte etwas sagen und schluchzte nur. Das Taschentuchknäuel fiel ihr aus der Hand. Ich ging hin und hob es auf und legte es auf ihre Hand, die flach in ihrem Schoß lag.
»Wissen Sie, wovor ich mich fast am meisten fürcht?« Sie betrachtete das Knäuel, dann schnappte ihre Hand zu . »Dass die Leute glauben, ich hätts gewusst. Dass die Leute im Dorf mich für eine Mitwisserin halten und dass ich dann eine Mittäterin bin. Ja. Die Leute werden das glauben. So sind die. Alle.«
»Nein«, sagte ich.
»Die Leute werden glauben, ich hätt was damit zu tun«, sagte Lieselotte Feininger. »Ich bin schuld, nicht er, ihr Herr Pfarrer, der Unfehlbare.«
»Nein«, sagte ich noch einmal .
»Alle«, sagte sie noch einmal. »Alle. Alle.«
»Glauben Sie, dass sie nichts gewusst hat? Ich glaub es nicht.«
Anatol Ferenz stand auf und kam zum Fenster, an das ich mich gestellt hatte, weil ich dem Jungen zuschauen wollte, der vor dem abgesperrten Areal neugierig hin und her lief. Er hatte kurze grüne Hosen an und ein blaues Trikot mit der Nummer eins auf dem Rücken, er war barfuß und hatte schwarze Locken. Unermüdlich rannte er quer über die Wiese hinter dem Pfarrhaus, ließ seine Hand über das rotweiße Plastikband gleiten und blieb zwischendurch ruckartig stehen, als
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