Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel
mit der Sache zu tun haben.
Und ich brauchte sie kein weiteres Mal zu belästigen .
Einen Tag später erschnupperte der Schäferhund eines Spaziergängers in einem Wald, nicht weit vom Kloster Andechs entfernt, in einem Erdloch ein dünnes Metallrohr. Der Mann alarmierte die Polizei .
Henrik Talhoff hatte Lucia, wie er gesagt hatte, in einer Kiste gefangen gehalten und diese in der Erde vergraben. Offenbar funktionierte das Belüftungsrohr höchstens zwei Tage. Das bedeutete, Talhoff wusste, als wir ihn festnahmen, dass die junge Frau bereits erstickt war. Sie hatte ihre Fingernägel abgekaut, alle zehn, und mit Blut an die Wand der Kiste geschrieben: »Kein Winken mehr, Lena.«
Henrik Talhoff wurde zu lebenslanger Haft verurteilt .
Ich nahm unbezahlten Urlaub und fuhr nach Taging, ohne mit irgendjemandem noch über Anna Jagoda zu sprechen. Ich hauste in einer Waldhütte, bis Sonja es schaffte, mich mitzunehmen.
Denn wieder war ein Kind verschwunden, diesmal ein Junge. Ihn konnte ich retten .
Martin jedoch rettete ich nicht.
»Ich muss in die Stadt«, hatte er in Taging gesagt, als er mich im alten Feuerwehrhaus aus dem Fragenkäfig der Reporter befreite. »Sonst sterb ich vor Landluft.«
Er fuhr zurück, und ich blieb.
Ich redete mit Anatol Ferenz. Vielleicht hätte ich besser mit Martin reden sollen. Oder wenigstens trinken mit ihm. Oder. Oder.
»Sie haben nichts geahnt«, sagte ich .
»Sie meinen die Geschichte mit der Frau?«, sagte Ferenz .
Ich sagte: »Ich meine die Geschichte mit dem Verbrechen.«
»Nein«, sagte er.
»Niemand im Dorf hat etwas geahnt.«
»Sie dürfen die Leute nicht verurteilen«, sagte Ferenz. »Er war bei allen beliebt, er genoss das Vertrauen der Jungen wie der Alten. So einen mitfühlenden Pfarrer wie ihn hatte die Gemeinde noch nie gehabt. Alle haben in ihm einen gerechten, liebevollen, verzeihenden Vater gesehen. Und Sie, Herr Süden, haben ihn in den Augen der Taginger als Kindsmörder hingestellt.«
»Er war ein Kindsmörder«, sagte ich.
11
D as Mädchen saß da und starrte in seine Teetasse. Sie hatte ihre rosafarbene Bluse vor dem Bauch verknotet und ihre braunen Haare waghalsig zu einem zauseligen Turm zusammengebunden, und sie duftete blumig. Ich stand an der Tür zum Flur. Gelegentlich warf mir Sabrina einen Blick zu. Bei der Begrüßung hatte sie nur Hallo gesagt und sich dann wortlos an den Küchentisch gesetzt. Ihre Mutter saß ihr gegenüber und trank Kaffee.
Nach einer Weile sagte Lieselotte Feininger zu ihrer Tochter: »Ich bin froh, dass du wieder da bist.« Daraufhin wandte sie sich an mich: »Sie war wieder weg, einfach so, mit ihren Freundinnen, die fahren nach München und lassen tagelang nichts von sich hören. Beim ersten Mal wär ich fast gestorben vor Angst und Verzweiflung.«
Ich musste an ihren Satz unten am See denken und sagte: »Warum machst du das, Sabrina?«
»Geht Sie das was an?«, sagte das Mädchen zur Tasse .
»Ja«, sagte ich. »Ich arbeite auf der Vermisstenstelle, ich bin für Dauerläufer wie dich zuständig.«
»Bin kein Dauerläufer«, murmelte sie .
»Eine Dauerläuferin«, sagte ich.
»Was will der hier?« Sie stellte die Tasse auf den Unterteller, schob mit einem scharrenden Geräusch den Stuhl weg, der gegen den Kühlschrank knallte, und zwängte sich an mir vorbei. Obwohl sie eine schmale Figur hatte, stand ihr entblößter Bauch ein wenig wabbelig vor.
»Vergiss nicht, Leslie die zwanzig Euro zurückzugeben!«, rief ihre Mutter.
Dann hörten wir das Klirren von Schlüsseln, und eine Tür schlug zu. Es war still.
»Sie ist in einer komplizierten Phase«, sagte Lieselotte Feininger. »Möchten Sie sich nicht setzen?«
Ich sagte: »Ich stehe lieber.«
Auf der Straße fuhren Autos vorüber, Stimmen von Kindern drangen in die Wohnung, die aus drei fast quadratischen Zimmern, einer engen Küche und einem Bad mit Fenster bestand. Die Möbel waren hell und die Wände leer.
Lieselotte Feininger zupfte an ihrem Kleid und sah gedankenvoll zum Fenster. »Können Sie mir erklären, warum die Mädchen das machen?« Sie lehnte sich zurück und betrachtete die Tasse, aus der ihre Tochter nur wenige Schlucke getrunken hatte. »Für sie ist das wohl ein Spiel. Oder ist das der totale Widerstand gegen die Erziehung, gegen die Mütter, die Eltern?«
»Was tun die Mädchen in München?«, sagte ich .
»Ich weiß es doch nicht!«, sagte sie laut. Sofort senkte sie ihre Stimme: »Weiß nicht. Angeblich gehen sie in Discos,
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