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Süden und die Frau mit dem harten Kleid

Süden und die Frau mit dem harten Kleid

Titel: Süden und die Frau mit dem harten Kleid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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billiger Kreide verziert und getauscht zu werden. Alle Menschen wären Künstler und Proletarier, und jeder achtete die Arbeit und Kreativität des anderen. Es ist nicht lächerlich, so zu denken, wenn man zwölf Jahre alt ist und das Brimborium der Eltern um Ansehen und materiellen Erfolg verabscheut. Oder doch? Trieb womöglich ein Empfinden elementarer Lächerlichkeit deinen Vater aus seinem bisherigen Leben? Blickte er zurück auf die Zeit, die vergangen war, und erschrak er so sehr darüber, dass ihm nichts blieb als zu versuchen, seinem Schatten davonzulaufen?
    »Warum hat er sich nicht Luft gemacht?«, hatte mich seine Schwester gefragt .
    Wir schwiegen lange.
    Und als Mathilda den Kopf hob, sagte ich: »Vielleicht hat er es jetzt getan.«
     
    Auf den Stufen, die vom Lokal zur Straße führten, stolperte Mathilda Ross. Sie fiel gegen Sonjas Rücken und krallte sich an deren Mantel fest. Die kalte Luft machte ihr zu schaffen.
    Inzwischen war es vier Uhr nachmittags. Ein abweisendes Grau überzog Häuser und Gesichter, die Autos fuhren mit eingeschalteten Lichtern, in manchen Geschäften leuchteten elektrische Adventskerzen .
    Mathilda sah sich um. Im schäbigen Restlicht dieses Tages wirkten ihr Gesicht noch bleicher und ihre ganze Erscheinung wie die einer verirrten Frau. Sie wankte und hustete.
    »Sollen wir Sie nach Hause fahren lassen?«, fragte Sonja .
    Mathilda erwiderte nichts.
    Ich sagte: »Können Sie uns die Adresse Ihrer Mutter geben?«
    »Einhornallee vierzehn«, sagte sie schnell, zog die Schultern hoch und schlug die Knie aneinander .
    Sonja sah mich fragend an, und ich sagte: »Wär es Ihnen unangenehm, in einem Streifenwagen nach Münzing gefahren zu werden?«
    »Sehr unangenehm«, sagte sie mit gesenktem Kopf .
    Ich hatte nichts anderes erwartet. Was wir tun sollten, wusste ich nicht. Nach allem, was wir erfahren hatten, genügte die vorläufige Vermisstenanzeige, vom Dezernat aus konnten wir einige Daten in den Computer eingeben und dann abwarten, zumindest einen oder zwei Tage .
    Andererseits gab es die leere Wohnung. Und eine Fernsehzeitschrift, deren Programm am achten Oktober endete. Hatte Farak vergessen, sie wegzuwerfen? Und wenn er nach dem Achten eine aktuelle Illustrierte gekauft hatte, hätte er die alte nicht auf jeden Fall vorher weggeworfen?
    Wir mussten mit den Nachbarn sprechen, wir mussten endlich jemanden finden, der Farak in jüngster Zeit gesehen hatte.
    Keine zehn Minuten später fanden wir jemanden, ohne unser Zutun.
    »Ich bleib heut Nacht in seiner Wohnung«, sagte Mathilda.
    »Die Wohnung ist doch leer«, sagte Sonja. In der Art, wie sie sprach und an ihrem Mantel zupfte, erkannte ich ihre Ungeduld und ihren Ärger über die Unentschlossenheit der angetrunkenen Frau.
    »Ich bleib so lang in der Wohnung, bis er zurückkommt.«
    Es schien, als habe sie die Orientierung wieder gefunden .
    Ohne ein weiteres Wort überquerte sie die Straße, fuchtelte mit der Hand wie jemand, der seine Bewegungen nicht unter Kontrolle hat, und drehte sich auf der anderen Seite abrupt zu uns um.
    »Was sollen wir hier noch?«, fragte Sonja. »Wir gehen über INPOL, und basta. Ich finde, wir haben uns genug um die Frau gekümmert. Was ist? Was schauen Sie so denkwürdig?«
    »Haben Sie nicht zugehört, was die Frau erzählt hat?«
    »Was soll denn diese Frage?«
    »Der Maler ist suizidgefährdet«, sagte ich .
    »Ja«, sagte sie. »Kann sein. Ich möchte nur … Was brauchen wir denn noch? Wir schicken Fernschreiben an alle Dienststellen in und rund um München, wir kümmern uns ja um den Mann! Aber nicht hier auf der Straße! Hier können wir nämlich überhaupt nichts tun außer frieren.«
    »Ich befrage ein paar Nachbarn«, sagte ich. »Sie können ins Dezernat fahren und versuchen, die Mutter zu erreichen. Besuchen werden Sie sie wahrscheinlich nicht wollen.«
    »Bestimmt nicht«, sagte sie.
    Danach verabschiedete sie sich von Mathilda Ross, nickte mir zu und ging zu ihrem Auto .
    »Ist sie sauer?«, fragte Mathilda.
    »Nein«, sagte ich. »Sie hat im Büro zu tun.«
    »Tut mir Leid, dass ich Sie aufhalte.«
    »Sie halten mich nicht auf.«
    »Glauben Sie, dass ich spinn?«, fragte sie.
    »Nein.«
    »Sie wollen nur höflich sein.«
    »Nein.«
    Wir hatten das Haus in der Bauerstraße erreicht.
    »Jetzt hab ich vergessen, was zu trinken zu kaufen«, sagte sie. »Wasser! Heut trink ich nur noch Wasser!«
    »Vorn am Platz habe ich einen Getränkemarkt gesehen. Geben Sie mir den Schlüssel, ich

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