Süden und die Schlüsselkinder
Daheim dachte und dessen Bewohnerin und an die Kneipe »Carlos« und dessen Gast am Tresen, kam Süden der Keller wie eine Oase vor, abseits der von innerlich skelettierten Menschen bewohnten Wüsteneien, durch die er in dieser Nacht gezogen war.
Und dennoch hatte er einen Fehler begangen.
»Ich hätte dich viel eher finden müssen«, sagte er endlich. »Schon gestern früh, ich habe mich täuschen lassen.«
Adrian reagierte nicht sofort. »Ich hab den Gregor angesimst, er hat sich nicht gemeldet, nie hat der sich gemeldet. Und angerufen hab ich ihn sogar auch, auf dem richtigen Telefon. Er war nicht da.«
»Er ist da«, sagte Süden. »Er ist sehr krank, sein Handy funktioniert nicht mehr. Er denkt immer an dich.«
»Ich denk auch immer an ihn.«
»Ach, Adrian.«
Was sollte Süden ihn fragen? Warum hast du dich im Schrank versteckt? Warum hast du so getan, als würdest du weglaufen? Warum hast du Fanny Botschaften geschickt, als wärst du in der Stadt unterwegs und hättest ein Ziel? Wen wolltest du täuschen? Was wolltest du erreichen? Wie bist du auf die Idee gekommen, dich von Fanny im Lagerraum einsperren zu lassen? Wie hast du es einen ganzen Tag und eine ganze Nacht in einem Schrank ausgehalten? Musstest du nicht auf die Toilette? Hattest du keine Angst? Was war passiert, dass du diese Entscheidung getroffen hast?
Die Polizei würde Adrian solche Fragen stellen, auch Ines Hermann und ihre Kolleginnen.
»Ich möchte dich etwas fragen«, sagte Süden. »Du brauchst nur zu antworten, wenn du magst.« Der Junge rührte sich nicht. »Wenn du zu deinen Eltern zurückkehren könntest, was würdest du ihnen sagen? Was würdest du dir von ihnen wünschen?«
Der Junge überlegte nicht lange. »Dass sie wieder zusammen sind und wir alle. Aber das wissen die schon, dass ich das will, und das interessiert die nicht, was ich will. Ich will was, und sie sagen, das geht jetzt nicht. Später auch nicht. Nie geht das. Ich will, dass der Nils nicht mehr kommt und mit mir redet. Ich will, dass mein Papa wiederkommt und nicht erst in der Nacht, wenn ich schon fast schlaf. Dann schreit er mich an und die Mama auch, und die Mama weint dann. Die Mama soll nicht mehr weinen. Auf mich hört niemand. Das ist so. Ich bin bloß ein Kind, was ich sag, ist nichts wert. Ich wollt, dass der Gregor mit meinen Eltern spricht, der ist Polizist, dem müssen sie zuhören, sonst sperrt er sie ein. Ich wollt, dass der Gregor zu meinem Papa ins Geschäft geht und zu ihm sagt: Komm jetzt mit. Und dann nimmt er ihn mit zu uns nach Haus, und da wartet schon meine Mama, und ich bin auch da. Und dann macht der Gregor, dass niemand schreit und weint und wir alle Stachelbeerkuchen essen. Magst du Stachelbeerkuchen?«
»Ja«, sagte Süden. Er hatte noch nie welchen gegessen.
»Ich total gern. So wär das alles, und ich würd wieder gute Noten in der Schule schreiben und mich nie mehr mit meiner Mama streiten und mit meinem Papa. Wir streiten immer, das passiert einfach so, und dann haut mein Papa mich, und meine Mama geht weg. Die wohnt jetzt in einem Hotel, hat mein Papa zu mir am Telefon gesagt, die ist da bestimmt mit dem Nils eingezogen. Der muss weggehen, sonst dreht mein Papa durch, der macht dann was Schlimmes. Wenn der Nils da ist, braucht meine Mama mich nicht mehr, dann bin ich im Weg rum. Die Karla sagt, alles, was wir nicht brauchen, kommt in den Lagerraum rein. Da bin ich richtig. Die Karla hat das richtig gesagt. Alles, was wir nicht brauchen, kommt hier rein.«
Süden erinnerte sich an den Satz der Erzieherin, als sie gestern den Keller inspizierten. Er hatte ihn sofort vergessen gehabt. Karla hatte den Schlüssel aus dem Erdgeschoss geholt und aufgesperrt, überall Kartons und Kisten. Und hinten der Schrank, in dem der Junge kauerte und jedes Wort mithörte. War die Schranktür angelehnt?, dachte Süden. Hätte er nicht ein Atmen wahrnehmen müssen, ein winziges Knarzen, einen Geruch? Er hatte einen Fehler begangen und keine Erklärung dafür.
Adrian sagte: »Auf den Gregor hab ich mich verlassen, der hätt alles machen sollen, was ich nicht kann. Jetzt ist niemand mehr da. Nur die Fanny. Die ist mutig, die hat den Schlüssel genommen und niemand was gesagt, auch dir nicht, auch der Ines nicht. Die Fanny ist meine Freundin.«
Zum ersten Mal drehte er ein wenig den Kopf nach hinten. »Ich geh nicht zu meinen Eltern zurück. Weißt du, warum? Die sind eh nicht da. Meine Mama ist im Hotel mit dem Nils, und mein Papa ist in der
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