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Süden und die Schlüsselkinder

Süden und die Schlüsselkinder

Titel: Süden und die Schlüsselkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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eh niemand sieht, kann ich genauso gut ganz abhauen. Und das hast du getan, wie Tausende vor dir. Und jemand kommt zu mir und fordert mich auf, die Verschwundenen zu suchen, so wie dich. Stell dir vor: Plötzlich wurdet ihr alle vermisst, ihr, die Unvermisstesten von allen …«
    Bei diesem Wort lächelte Adrian flüchtig.
    »… Er wurde wieder von den anderen bemerkt, und sie stellten fest, dass er ihnen fehlte. Und das war die Wahrheit: Er fehlte in ihrer Runde, sie wollten ihn wiederhaben, wollten seine Stimme wieder hören, in seine Augen schauen und sich von ihm ärgern und ausschimpfen lassen. Sie wollten, dass er wieder auf seinem Stuhl saß, wie immer, mit ihnen gemeinsam, und ein Teil von ihnen war. Und das war genau das, was er auch wollte. Deswegen löste er sich in Luft auf. Damit sie die Hand nach ihm ausstreckten und nach ihm tasteten. Und er entwischte ihnen so lange, bis er überzeugt war, sie wollten ihn wirklich zurück, unbedingt. Dann ließ er sich finden. So wie du, mein Freund. Mach dir keine Sorgen. Du bist bloß deiner eigenen Stimme gefolgt, und die lügt nicht. Und jetzt gehst du ins Bett, du hast eine Menge Träume aufzuholen.«
    Adrians Finger hörten auf, auf seinen Beinen zu turnen. Er kratzte sich am Kopf, und seine Haare gerieten noch mehr durcheinander. Er zog die Stirn in Falten und verharrte wie festgezurrt.
    Niemand traute sich etwas zu sagen.
    Dann kratzte Adrian sich noch einmal am Kopf und sagte, an Süden gewandt: »Du? Was heißt ›einstweilen‹?«

[home]
    20
    A uf den Holzstock mit dem gelben Griff gestützt, schleppte er sich über die Ampel an der Rosenheimer Straße und weiter durch die Steinstraße bis zur nächsten Kreuzung. Die fast lautlos vorbeirauschende Straßenbahn trieb seinen Pulsschlag noch weiter in die Höhe, er bekam kaum Luft. Jeder Meter, den er zurücklegte, verursachte Schmerzen an jeder Stelle seines unaufhörlich juckenden Körpers. Die Medikamente halfen nicht mehr, nicht einmal das Sorafenib. Seit fünfzig Stunden hatte er kein Auge zugemacht, und als er in die Kellerstraße mit den wie Iglus aussehenden eingeschneiten Autos einbog, wäre er beinah ausgerutscht.
    Sechs bis zwölf Monate noch, hatte sein Arzt gesagt. Wie lang war das her? Sechs Monate?
    Aus einem Grund, der ihm sinnlos erschien, hatte Gregor Berghof sich auf den Weg zur Familie Gerland in der Metzstraße gemacht. Er trug einen zerschlissenen Lodenmantel und einen nach Moder riechenden Hut. Den Entschluss hatte er in der Nacht gefasst, und als er dann, Stunden später, aus dem Haus trat, fragte er sich, was er damit bezweckte. Entschuldigen wollte er sich nicht, wofür denn, er hatte nichts getan, als sich in höchster Not zu erleichtern, hinter Sträuchern, nach Einbruch der Dunkelheit, abseits des Bürgersteigs und der Straße. Das hatte er den Leuten alles schon erklärt, mehrfach. Es gab keinen Grund für eine Entschuldigung, auch wenn sein Vorgesetzter anderer Meinung gewesen war.
    Trotzdem hatte der Wunsch ihn heute überwältigt und aus dem Haus getrieben, gebeugt wie ein Greis, bleich wie ein Toter. Er wollte zu Gerland sagen: Es war nicht meine Absicht, Ihre Tochter zu erschrecken, ich bin gekommen, um Ihnen das persönlich zu sagen. Es war nicht meine Absicht.
    Hausnummer dreiundzwanzig. Unterwegs fiel ihm ein, dass heute der dreiundzwanzigste Dezember war. Was sollte das bedeuten?
    Er erkannte das Viertel nicht wieder. Tag für Tag war er durch die Straßen gegangen, hatte mit den Bewohnern gesprochen, die Jugendlichen ermahnt, wenn sie öffentlich Alkohol tranken oder rauchten, manchmal jemandem zugewinkt. Das hatte er immer gern getan: wortlos über die Straße winken.
    Heute winkte niemand. Die Passanten taumelten eingehüllt in dicke Mäntel und Mützen vorüber, alle in Eile, denn morgen war Heiligabend und sie mussten noch so vieles erledigen.
    Seine Schuhe hatten schlechte Sohlen. Beim Schuhmacher war er seit Jahren nicht mehr gewesen. Wer keinen Weg mehr hat, dachte er, braucht auch keine festen Schuhe. Von der Kellerstraße musste er nach links, das wusste er noch, und er wunderte sich darüber. Nummer dreiundzwanzig. Grüß Gott, hier ist Herr Berghof, haben Sie eine Minute Zeit?, würde er in die Sprechanlage sagen. Ich bin gekommen, um zu sagen, es war nicht meine Absicht.
    Vor der Tür stützte er sich an der Hauswand ab, als wäre er einer der zusammengesoffenen Raucher vor dem »Carlos«, die auf ihr Gleichgewicht bedacht waren. Berghof war ebenfalls auf

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