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Süden und die Schlüsselkinder

Süden und die Schlüsselkinder

Titel: Süden und die Schlüsselkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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die Luft gezeichnet hatte. Er sah den Finger im Handschuh, der ihrer Hand eine unwirkliche Form verlieh, und den Schwung, den er vollführte. Er wollte nicht an die Bedeutung des Buchstabens glauben. Er wollte, dass Fanny ihn zu irgendeiner Person in irgendeiner Wohnung brachte und dass dort ein verschreckter zehnjähriger Junge auf einem Stuhl saß und erleichtert aufsprang, weil er nun nach Hause durfte.
    Süden wollte, dass ihm die beiden Kinder auf dem Heimweg im Taxi die Wahrheit über ihr abgekartetes Spiel erklärten und auch, aus welchem Grund sie ausgerechnet diese bestimmte Person ausgewählt hatten, bei der Adrian sich versteckt hielt.
    Süden wollte am nächsten Morgen in der Detektei Liebergesell seinen Abschlussbericht schreiben und sein Honorar überwiesen bekommen, und er wollte, dass im Zeno-Haus das Leben weiterging.
    Im Zeno-Haus ging das Leben bereits weiter. Über diesen Teil seiner Vorstellung brauchte er sich nicht den Kopf zu zerbrechen. Einen Abschlussbericht würde er auch schreiben und sein Honorar ihm nicht vorenthalten werden, ganz gleich, ob Adrians Mutter ihn wegen Beleidigung anzeigte. Diese Dinge würden alle geklärt werden.
    Die Dinge lagen klar vor ihm. Eine Handvoll Schritte noch, und der Fall wäre abgeschlossen.
    Der Fall war abgeschlossen. Er musste sich nur vom Fleck bewegen. Etwas hielt ihn zurück. Etwas wie Furcht vor der Begegnung mit dem schlauen, verzweifelten, vor Alleinsein unsichtbar gewordenen Jungen.
    »Du hast Adrian nicht verraten«, sagte er zu Fanny. »Warum hat er das getan? Warum wollte er verschwinden?«
    Zwei Minuten vergingen. Dann griff Fanny nach Südens Hand und hielt sie fest. »Damit jemand nach ihm sucht, glaub ich«, sagte sie.
    Süden sagte: »Damit wir ihn wiederfinden.«
    Fanny nickte mit ihrer roten Pudelmütze.
    »Damit wir ihn nicht vergessen.«
    Die rote Mütze wackelte.
    »Damit er nicht verlorengeht«, sagte Süden.
    Sie schwiegen.
    »Es tut mir leid, was ich in deiner Gegenwart zu Adrians Mutter gesagt habe.«
    »Meine Mama hat schon viel schlimmere Sachen zu mir gesagt.«
    Fannys Hand war kalt. Süden umfasste sie mit beiden Händen. So standen sie da, als nebenan die Tür aufging und Nils Steinfeger den Kopf in den Flur streckte.

[home]
    18
    S üden saß auf einer der grauen Wolldecken, die er von der Truhe genommen und auf dem Boden ausgebreitet hatte, zwischen zwei Umzugskartons, an die Wand gelehnt, und ließ den Jungen nicht los.
    Der Zehnjährige hockte vor ihm. Süden hatte die Arme um ihn geschlungen, niemand störte sie. Sie saßen nur da, seit vielleicht zehn Minuten. Es war kalt, aber die Kälte machte ihnen nichts aus.
    Adrian trug einen roten Anorak, eine blaue Mütze, gefütterte Stiefel und um den Hals einen grauen Schal, den der Mann ihm geliehen hatte, von dem er bisher nur den Namen kannte.
    Seine Begleiter hatte Süden – er hatte noch seine Daunenjacke an und die graue Mütze auf – gebeten, draußen zu warten, während er die Tür hinter sich schloss. Fast vierundzwanzig Stunden war der Junge verschwunden gewesen und hatte sich doch nicht von der Stelle bewegt.
    Als Süden die Schranktür aufzog und den Jungen darin sitzen sah, sagte er: »Servus, Adrian.« Und er nannte seinen Namen. Dann streckte er die Hand aus. Adrian nahm sie nicht, auf allen vieren krabbelte er aus dem Schrank und wartete, bis Süden die Decke auf den Boden gelegt hatte.
     
    Leise Frauenstimmen drangen durch die Tür, im Hintergrund das Gemurmel ungeduldiger Polizisten, die in Telefone und Funkgeräte sprachen.
    Süden überlegte, ob er sich als Kommissar ebenfalls hätte übertölpeln lassen. Vermutlich hätte er drängendere Fragen gestellt, genauer hingesehen. Wirklich? Von Anfang an war ihm klar, dass Adrian eine Komplizin hatte, Fanny, und dass sie ihn, Süden, an der Nase herumführte, wichtige Informationen für sich behielt, mit ihrer Wichtigkeit spielte. Diese Erkenntnis hatte ihm genügt, und er hatte sich treiben lassen.
    Solange der Junge Nachrichten auf dem Handy schickte, bestand keine Lebensgefahr, dachte er. Und er hatte recht. Solange der Junge sich regelmäßig meldete und gesprächsbereit war, würde er ihn irgendwann aufspüren, auch ohne Auswertung von Handydaten.
    Und er hatte recht. Solange sie in Kontakt blieben, wurde der Kontakt enger.
    Und er hatte recht. Hier saß er und hatte den Jungen gefunden, in einem alten Bauernschrank der Familie Hemmerle.
    Hier sind wir, dachte Süden. Und wenn er an das Zimmer im Hotel

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