Süden und die Schlüsselkinder
von ihm, und wir würden gern wissen, was er für ein Mensch war.«
»Tüchtiger Schreiner. Ich mocht ihn nicht, er hatte eine verschlagene Art, er wollte was von mir. Der eigene Schwiegervater. Gesagt hat er nie was, nur gegafft. Das kennt man. Wie geht’s meinem Jungen?«
»Es geht ihm gut. Er hat gesagt, er will seinen Opa besuchen. Wir verstehen das nicht, was meint er damit? Das Grab auf dem Ostfriedhof?«
»Weiß ich nicht.«
»Hatten die beiden einen speziellen Treffpunkt? Einen Ort, wo sie nur zu zweit hingingen?«
Yasmin hörte, wie Hannah Richter sich eine Zigarette anzündete und tief inhalierte. »Er hat ihn ständig in der Schreinerei besucht, sonst nirgends. Arnulf ist seit drei Jahren tot. Was wollen Sie eigentlich von mir?«
»Hatten Sie in den letzten Tagen Kontakt mit Ihrem Sohn?«
»Das würden Sie doch wohl wissen.« Hannah rauchte. Plötzlich war Straßenlärm zu hören, Autos hupten.
»Wo sind Sie, Frau Richter? Immer noch in der Pension?«
»Ist noch was?«
»Wir würden es sehr schön finden und auch wichtig für Ihr Verhältnis zu Adrian, wenn er an Weihnachten zumindest ein paar Stunden mit Ihnen verbringen könnte.«
»Das kann ich nicht. Wiedersehen.« Sie kappte die Verbindung.
Im ersten Moment glaubte Yasmin an einen technischen Defekt.
»Wir brauchen dringend Unterstützung«, sagte Karla und startete den Motor.
Yasmin schnallte sich an. »Polizei?«
»Erinnerst du dich an Tabor Süden?«
»Ich erinnere mich gut an Sie«, sagte Ines Hermann zur Begrüßung. »Haben Sie sich inzwischen wieder eingelebt in der Stadt?«
Süden klopfte seine schneebedeckten Schuhe auf dem Fußabstreifer ab und dachte: Ich habe mich nie ausgelebt.
»Unbedingt«, sagte er, nahm seine graue Wollmütze ab, zog den Reißverschluss seiner Daunenjacke auf, sog den Duft nach frischem Kaffee ein.
Vor mehr als einem Jahr war er schon einmal im Zeno-Haus gewesen. Seine neue Chefin, Edith Liebergesell, hatte ihn gebeten, bei der Suche nach einem verschwundenen Mädchen zu helfen, nachdem seine ehemaligen Kollegen von der Vermisstenstelle der Kripo nach zwei Tagen noch immer keine Spur gefunden hatten. Für Süden stand bald fest, dass eine Freundin der elfjährigen Sandra Bescheid wusste, aber natürlich totales Schweigen geschworen hatte.
In der Nacht stellte er sich an die Tür ihres Zimmers und wartete ab. Fünf Drohungen später, sie würde das Jugendamt, die Polizei und ihren Vater einschalten, weil sie sich von dem »fetten Kerl in meinem Privatbereich« bedroht fühlte, brach sie in einen Weinkrampf aus, dem Süden eine Weile zuhörte, bevor er sie an der Schulter packte, hochhob, in der Luft zappeln ließ, bis sie vor Schreck aufhörte zu heulen, und sie wieder aufs Bett setzte, ohne sie loszulassen.
Er sah sie an, ihr tränennasses Gesicht, ihre rotzverschmierte Nase, ihre geschürzten Lippen, und fragte sie, wo Sandra sich aufhalte. Unter einem mächtigen Schluckauf stammelte sie den Namen eines Jungen.
Eine halbe Stunde später holte Süden gemeinsam mit Ines Hermann und Karla Tegel die Elfjährige aus dem Zimmer eines Vierzehnjährigen in der Reichenhaller Straße, in unmittelbarer Nähe des Zeno-Hauses. Sandra erklärte, sie habe sich dort aufgehalten, weil sie in den Jungen verliebt sei. Dieser jedoch, so stellte Süden in der ersten Vernehmung fest, hatte bloß seinen Spaß daran, ein polizeilich gesuchtes Mädchen bei sich zu verstecken. Allem Anschein nach ließ er sie in seinem Bett schlafen, ohne sie anzurühren, was Sandra bestätigte.
Die Vermissung der Schülerin war einer der ersten Aufträge in seiner neuen Funktion als Mitarbeiter der Detektei Liebergesell gewesen.
Nach zwölf Jahren als Hauptkommissar auf der Vermisstenstelle der Kripo in München und sieben Jahren am Kölner Eigelstein, wo er – nach seinem freiwilligen Ausscheiden aus dem Staatsdienst – privaten Trinkern Tag für Tag und Nacht um Nacht ihren schmerzlich vermissten Nachschub servierte, war er, relativ eurolos, in seine Heimatstadt zurückgekehrt.
Hier erfuhr er vom Tod seines Vaters, den er seit seinem sechzehnten Lebensjahr nicht mehr gesehen hatte.
Schließlich tauchte er in Edith Liebergesells Büro am Sendlinger-Tor-Platz auf, was ihn selbst am meisten irritierte, weil er in Wahrheit keinerlei Vorstellungen von seiner Zukunft hatte. Eine Woche später unterschrieb er den Vertrag, eröffnete ein Konto und bezog auf Vermittlung seiner Chefin eine kleine Wohnung in seinem Hausviertel
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