Süden und die Schlüsselkinder
Süden.
Mit halboffenem Mund blieb Fanny vor ihm stehen.
»Sei still, ich muss nachdenken.«
Nach fünf Sekunden sagte sie: »Worüber denn?«
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3
S ein Nachdenken diente dem Stillsein. Anschließend bat er Fanny und Nepomuk, im Gute-Wünsche-Raum auf ihn zu warten, und ließ sich von Karla Tegel die Räume im Haus zeigen. Wie im Fall Sandra folgte er der bei vergleichbaren Vermissungen naheliegendsten Spur. Oft versteckten sich Kinder und Jugendliche an Orten, die sie besonders gut kannten, im Keller, auf dem Speicher, im Gartenhaus, in einem Baumhaus, bei einem Freund in der Nachbarschaft.
Die Treppe mit dem roten Handlauf führte vom zweiten Stock, wo die dreizehnjährigen Geschwister Leon und Miriam und die zwölf Jahre alten Max und Daniela ihre Zimmer hatten, bis in den Keller zur Werkstatt mit Werkbank und einer Menge Gerätschaften zum Basteln und Bauen. Nebenan im Tobe-Raum konnten die Kinder auf blauen Sportmatten herumturnen und auf eine Sprossenwand klettern. Im Flur stand ein Kicker-Kasten, der Lagerraum war abgesperrt.
»Haben Sie den Schlüssel dabei?«, fragte Süden. Karla musste ihn aus der Küche holen, wo er an einem Bord hing.
Der Raum war vollgestellt mit Umzugskartons, verstaubten Stühlen und Holzregalen, auf denen sich Aktenordner und Obstkisten mit Heften und Büchern stapelten. An der linken Wand standen ein schiefer Bauernschrank und daneben eine Truhe, auf der Wolldecken lagen. Nah bei der Tür versperrten Wasser- und Saftkisten den Weg.
»Der Schrank und die Truhe stammen noch von den Vorbesitzern«, sagte Karla. »Alles, was wir nicht brauchen, kommt hier rein. Ansonsten ist das unser Depot für Getränke und Dokumente über unsere ehemaligen Hauskinder.«
»Und es gibt nur den einen Schlüssel.«
»Ja.«
Karla sperrte wieder ab, und sie gingen zurück nach oben. »Nach dem Krieg stand hier das Haus der Familie Hemmerle«, erzählte die Erzieherin. »Das waren kirchenfromme Leute, er Kaminkehrer, sie Verkäuferin, die sich in ihrer Freizeit um Strafentlassene aus Stadelheim kümmerten. Sie stellten ihnen ein Zimmer zur Verfügung, gegen ein paar Mark für Essen und warmes Wasser, und halfen ihnen bei der Arbeitssuche. Als die Frau Hemmerle schwer krank wurde, verkauften sie das Haus an die Kirche. Nach dem Tod seiner Frau zog Hemmerle in eine billige Wohnung in der Nähe. In den Siebzigern wurde das Haus komplett umgebaut und modernisiert und fungierte als eine Art Frauenhaus, so wie die Stadt später eines ins Leben rief. Mitte der Neunziger verkaufte die Kirche das Anwesen samt Grundstück an die Stadt München, und der Kinderschutzbund als Träger eröffnete schließlich das Sankt-Zeno-Haus.«
Keuchend erreichte Süden den ersten Stock mit den roten, blauen und gelben Türen. Wenn er darüber nachdachte, wann er zum letzten Mal Sport getrieben hatte, stieg sein Blutdruck automatisch.
»Geht’s noch?«, sagte Karla.
»Wer war Zeno?«
»Zenon war ein Bischof aus dem vierten Jahrhundert, er gilt als Schutzheiliger gegen Überschwemmungen.«
Süden stützte sich an einem Türrahmen ab, schnaufte, unterdrückte ein Husten. »Wenn die Isar jemals bis nach Obergiesing steigen sollte, kann der Zeno einpacken, dann helfen nur noch Hubschrauber, keine Heiligen.«
»Seien Sie nicht so fatalistisch. Wollen Sie jetzt mit Fanny und Nepomuk sprechen?«
»Unbedingt.«
»Die sind aber nicht hier, sondern oben im Gute-Wünsche-Raum.«
Das hatte Süden vergessen. Seine Hand lag schon auf der Klinke von Fannys Zimmertür. Karla lächelte. »Darf ich Sie was fragen? Haben Sie manchmal den Gedanken, selber zu verschwinden, abzuhauen, unterzutauchen, alles und alle einfach zurückzulassen? Die alten Bahnen von heut auf morgen zu verlassen?«
Süden lehnte sich ans Treppengeländer. Im selben Moment endete die Musik in einem der Zimmer im zweiten Stock. Nach einem Schweigen sagte er: »Nein, ich bin unsichtbar genug.«
»Find ich nicht, wenn ich Sie so anschau.« Sie schaute ihn an, und Süden hätte nichts dagegen gehabt, wenn sie ihr Schauen ausgeweitet hätte.
»Und Sie?«, sagte er. »Wollen Sie manchmal ausbrechen?«
»Ich kann jeden verstehen, der’s tut.«
Süden sagte: »Ich auch. Obwohl die meisten Menschen einer verkehrten Vorstellung von ihrem Andersleben anhängen. Sie halten sich für einen anderen, während sie darüber nachdenken, und verwechseln sich mit dem Spiegelbild in ihrer Vorstellung. Das macht nichts. Ein Aufbruch ist nicht mehr rückgängig zu
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