Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition)
hatte diese feisten Lippen. Wenn er auf der Rückfahrt von der Schule kotzte, dann lachten alle. Keine Ahnung, wie er in Wirklichkeit hieß. Hendrix jedenfalls nicht. Und Gitarre spielen konnte er auch nicht.
Die leeren Bierdosen hatte Niklas immer im Gepäcknetz verstaut. Manchmal rollten sie herunter. Quer durch den Bus. Und der Fahrer wurde wütend. Er hielt auf offener Strecke an. Und stellte die Jungen zur Rede. Er konnte niemandem etwas beweisen. Was dazu führte, dass er alle acht Wochen einen oder zwei Schüler zur Strafe an die Luft setzte. Die mussten dann zu Fuß weiter. Nach Protesten von Eltern wurde dem Fahrer eine andere Linie zugeteilt. Und die Rülpswettbewerbe verliefen wieder in ordentlichen Bahnen. Nach maximal zwei Dosen war Niklas gerüstet. Er setzte sich auf den Platz in der Mitte der Rückbank. Konzentrierte sich. Machte, anders als seine Gegner, den Mund nicht auf. Sondern atmete bei geschlossenem Mund. Riss ihn nach genau zehn Sekunden ruckartig auf. Und gab einen tiefen männlichen Laut von sich. Unübertrefflich.
Schlagartig ließ er die Arme sinken. Schnappte nach Luft. Lehnte den Kopf an die Tür. Und ging in die Knie. Seine Stirn schabte über das Holz. Und seine Haare verwischten das Blutmuster.
Zusammengekauert blieb er liegen.
Jemand klopfte. Jemand sagte etwas, das Schilff nicht verstand. Er hielt sich die Ohren zu. Er schloss die Augen. Und riss sie sogleich wieder auf. Was er sah, war die Welt, in der er sich befand. Jetzt. Und diese Welt wollte er nicht. Er wollte sie nicht. Ich will nicht. Ich will nicht. Ich will nicht.
»Machen Sie sofort die Tür auf.«
Niklas Schilff gelang es, die Schultern zu heben. Und sich ein kleines Stück aufzurichten. Dann hielt er den Mund nah ans Schlüsselloch.
»Das wird nichts nützen«, flüsterte er.
Keiner der Bewohner des Hauses Rothmundstraße 6 hatte Ariane Jennerfurt weggehen sehen. Lotte Moll, ihre Nachbarin im zweiten Stock, wiederholte, sie habe Arianes Stimme gehört und Schritte im Treppenhaus. Ob sie allein war, konnte sie nicht sagen. Beim dritten Nachfragen war sie sich nicht mehr sicher, ob es tatsächlich Arianes Stimme war. Vielleicht war es auch die von Frau Glasner aus dem vierten Stock. Auf jeder Etage wohnten zwei Parteien. Jede der zweiflügeligen Eingangstüren hatte ein Fenster mit Verzierungen. Überall hingen Gardinen vor den Türfenstern.
Süden und Sonja Feyerabend klingelten an sämtlichen Türen. Wo sie niemanden antrafen, hinterließen sie den Bewohnern eine Nachricht mit der Aufforderung, sich im Dezernat zu melden.
»Ich glaub, dass die einen Herrenbesuch hatte«, sagte Frau Glasner, eine Frau Mitte sechzig. Sie putzte gerade Gemüse für die Mittagssuppe.
»Haben Sie jemanden gesehen?«, fragte Sonja. Sie trug ihren dunkelblauen knielangen Wollmantel und ihre lederne Schirmmütze, die ihrem Gesicht, wie Süden fand, einen Hauch von Verschmitztheit verlieh.
»Nein«, sagte Frau Glasner. Sie saß am Tisch. Ihre Besucher standen an der Tür. Es roch nach Gewürzen und Kölnisch Wasser.
»Haben Sie eine Stimme gehört?«, fragte Süden.
Die Frau betrachtete ihn. Sein Gesicht. Seine Haare. Und verzog den Mund. Dann schaute sie Sonja an.
»Sie haben ja beide dieselbe Augenfarbe.«
»Ja«, sagte Süden.
»Mein Mann hat blaue Augen wie Hans Albers.«
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Süden. Das war ihm so herausgerutscht. Obgleich er erst gegen zwei Uhr nachts ins Bett gekommen war, hatte er sich am Morgen munter gefühlt. Und er verspürte einen kindischen Unernst. Schon seit gestern. Als er sich wie ein Indianer auf die Schienen gelegt hatte. Weder er noch Martin Heuer hatten Sonja davon erzählt. Für derartige Kindereien hatte sie kein Verständnis.
»Hat Ihr Mann jemanden gesehen?«, fragte Sonja.
»Der war gar nicht da, der war in der Stadt.«
»Wie kommen Sie dann darauf, dass Frau Jennerfurt Herrenbesuch hatte?« Süden griff in die Innentasche seiner Lederjacke.
»Hätt sein können.« Frau Glasner steckte sich ein kleines Stück Lauch in den Mund. »Ist gut für die Dritten. Ich hab die Tür kurz aufgemacht, weil ich den Mülleimer rausgestellt hab, damit mein Mann ihn runterträgt, und da hab ich eine männliche Stimme gehört, und dann ging die Tür zu. Der Mann ist in die Wohnung gegangen.«
»Wann?«, fragte Sonja.
»Am Samstag, Samstagabend, vor acht, weil …« Sie stopfte die Reste in eine Plastiktüte. »Kurz nach acht ist mein Mann gekommen, er geht am Samstagnachmittag
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