Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition)
Funkel.
»Ist sie krank?«
»Sie ist die einzige hypochondrische Frau, die ich kenne. Normalerweise sind doch nur Männer Hypochonder.«
»Ich nicht«, sagte Süden.
»Ich auch nicht.«
Funkel wollte noch etwas fragen. Dann ließ er es sein. Der Gedanke kam ihm lächerlich vor. Lächerlich für sein Alter.
»Wie geht’s Sonja?«, fragte er. Die Frage quoll ihm aus dem Mund. Er konnte sie nicht zurückhalten.
»Gut«, sagte Süden, im Stillen amüsiert.
»Hallo«, sagte Sonja Feyerabend zu den beiden Männern. Der Konferenzraum bestand aus zwei Zimmern mit einer Verbindungstür. Was bei Besprechungen von Sonderkommissionen mit vielen Personen zu großer Unübersichtlichkeit führte.
An diesem Montag genügte ein Tisch. Außer Funkel, Süden und Sonja Feyerabend nahmen an der Konferenz noch die junge Oberkommissarin Freya Epp sowie zwei Männer von höchst gegensätzlicher Erscheinung teil.
Der eine, Paul Weber, neunundfünfzig, war ein bulliger Mann mit buschigen Augenbrauen und einem breiten Gesicht. In seinem karierten Hemd, seiner speckigen Kniebundhose und mit seinen weiß-blauen tischtuchgroßen Taschentüchern sah er aus wie ein Bayer von der Postkarte. Dazu hatte er gelocktes Haar. Und seine Ohren liefen manchmal tomatenrot an. Der Hauptkommissar war übergewichtig. Auf seinem runden Bauch konnte er eine Kaffeetasse abstellen. Und wenn er aß, dann garantiert keine Salatblätter an Wachteleiern. Vor fünf Jahren war seine Frau Elfriede gestorben. Seither schämte er sich wie als Kind manchmal seiner Einsamkeit. Wie immer hatte er die Ärmel seines rot-weiß karierten Hemdes hochgekrempelt. Graue Haarbüschel prangten auf seinen Unterarmen. Und er notierte mit einem Bleistift Stichpunkte. Meist Zitate. Auch seine eigenen. Es war ein Spleen.
Der andere, ein Klappergestell, saß neben ihm. Ein dürrer, ausgemergelt wirkender Mann von dreiundvierzig Jahren: Hauptkommissar Martin Heuer. Er hatte nur noch wenig Haare, auf seinem Hinterkopf zu einer Art Nest geformt, und dicke Tränensäcke unter den blassen Augen. Im Kontrast zu seinen eingefallenen Wangen thronte eine fleischige Knollennase in seinem Gesicht, die unvermeidlich an einen Trinker erinnerte. Martin Heuer war Trinker. Er trank nie im Dienst. Und oft tagelang keinen Tropfen. Doch wenn er loszog, immer durch dieselben Lokale, und bei denselben Wirten und Prostituierten die Nächte verbrachte, dann war es, als würde er darauf hinarbeiten, sich zu zerstören. Über so etwas dachte er nicht nach. Er tat es einfach. Versank in Melancholie. Und vergaß, dass er noch ein anderes Leben hatte. Und Freunde. Wenn Sonja ihn fragte, wieso er wieder abgestürzt sei, sagte er: Ich weiß es nicht. Wenn Tabor Süden ihn so lange anschwieg, bis Heuer nicht anders konnte als etwas zu erzählen, sagte er: Ich war wieder bei Lilo, sie hat sich jetzt eine Dusche in ihr Schlafzimmer installieren lassen.
Wenn er sich mit Sonja und Süden traf, wenn sie zu dritt unterwegs waren, zum Baden fuhren, ins Kino oder zum Essen gingen, lachte er viel. Trank wenig. Und vermittelte den Eindruck eines glücklichen Menschen. Vielleicht war er in diesen Momenten glücklich. Auch darüber dachte er nicht nach. Martin Heuer führte das Leben eines zuverlässigen Polizeibeamten. Und in unbegreiflichen Phasen wurde er zu einem Schatten, der über Wände huscht.
»Gut geschlafen?«, fragte Freya Epp.
Heuer sah sie an. Als wäre sie ein bebrillter Engel, der sanftmütig Alltag an alle verteilte. Durch die dicken Gläser ihrer grünen Brille wirkten Freyas braune Augen unwirklich groß.
»Jawohl«, sagte Heuer.
Auf dem Tisch standen Wasserflaschen, Gläser, Tassen und zwei Kannen mit Tee und Kaffee. Jeder hatte ein Getränk vor sich. Und blätterte in den kopierten Aufzeichnungen der Kollegen, die am Wochenende Bereitschaftsdienst gehabt hatten.
»Wart ihr in der Wohnung dieser …« Funkel nahm eines der Blätter. »… Ariane Jennerfurt? Hier steht nichts von Hinweisen auf eine Gewalttat.« Er warf einen Blick auf seine Pfeife, die schräg vor ihm lag. Und die er nicht anzünden durfte.
»Nein«, sagte Süden, »wir waren im Haus und haben mit einer Nachbarin gesprochen. Die hat nichts gesehen. Sie behauptet allerdings, sie habe Ariane weggehen hören, Samstagmorgen.«
»Samstagmorgen«, wiederholte Weber. Und schrieb das Wort auf seinen Block. Und kreiste es ein. »Ihre Freundin hat uns am selben Tag angerufen, nur weil Ariane nicht zur Arbeit erschienen ist. Habt ihr den
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