Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition)
Wände.«
»Zwei«, sagte Süden.
»Was?«
»Zwei Wände. Auf der anderen Seite ist die Tür.«
»Die Tür ist zu, da ist auch eine Wand.«
»Es ist immer eine Tür da«, sagte Süden.
»Ist das so in Ihrem Leben?«
»Das ist in jedem Leben so.«
Süden zog den Reißverschluss seiner Lederjacke hoch und trank.
»Ist Ihnen kalt?«, fragte Schilff.
»Nein.«
Der Reporter wippte mit dem rechten Bein. Er klopfte mit dem leeren Glas auf den Tresen, und Susi nahm es ihm aus der Hand.
»Noch eins?«
»Was denn sonst?«, sagte er laut.
»Sie kriegen keins mehr, Sie zahlen jetzt.«
»Er kriegt noch eins«, sagte Süden.
»Von Ihnen lass ich mich nicht einladen, Sie Moralapostel«, sagte Schilff und drehte sich auf dem Hocker um. Einige Gäste sahen zu ihm her.
Ohne eine Miene zu verziehen, blickte er in die Runde. Alle Tische waren besetzt. Einige Gäste hatten Reisetaschen und Koffer neben sich stehen.
Mit der flachen Hand wischte sich Schilff übers rechte Ohr und zeigte mit dem Finger auf einen Mann, der direkt vor ihm allein an einem Tisch saß und Zeitung las. Im Gegensatz zu den meisten anderen Gästen war der Mann nicht auf Schilff aufmerksam geworden.
»Das ist das Letzte, mehr kriegt er nicht«, sagte Susi und machte den vierten Strich auf dem Bierdeckel. »Entweder die Leute besaufen sich bei mir oder … Ich kann das nicht leiden, Fremdbesoffene zu bedienen.«
»Na und?«, sagte Süden.
»Das verstehst du nicht«, sagte Susi.
Süden wartete darauf, dass Schilff sein Spiel beendete.
Inzwischen deutete der Reporter mit zwei Fingern auf den Zeitungsleser. Der blätterte jetzt um und schien von den Berichten völlig gefesselt zu sein. Er war Ende zwanzig und hatte halblanges dünnes Haar. Auf seinem entblößten linken Unterarm war eine Tätowierung zu sehen. Warum Schilff auf ihn zeigte, wusste nicht einmal er selbst.
»Ihr Getränk ist da«, sagte Süden. Er hörte ein verdruckstes Lachen und wollte sich gerade versichern, ob Schilff dieses Geräusch machte, da sprang der Tätowierte von seinem Stuhl auf, war mit einem Satz bei Schilff und schleuderte ihn zu Boden. Bevor der Tätowierte zutreten konnte, glitt Süden vom Barhocker und verpasste dem jungen Mann zwei Ohrfeigen. Als dieser ausholte und zurückschlagen wollte, hob Süden einfach die Hand. »Ich bin Polizist.«
Der junge Mann erstarrte.
»Hilf ihm aufstehen und hau ab.«
»Scheiß auf den«, sagte der junge Mann.
»Bitte?«, sagte Süden.
Schilff hatte Schürfwunden im Gesicht und an den Händen und hielt sich den Bauch. Die Pflaster waren aufgerissen. Und er fürchtete, wenn er sich erhob, würde seine Hose blutgetränkt sein. In seiner Trunkenheit hatte er sich instinktiv abgerollt und es sogar geschafft, nicht gegen die Wand zu knallen, sondern sich mit den Füßen rechtzeitig abzustützen.
Dem jungen Mann nützte Südens Angebot nichts mehr. Aus der Inspektion der Bahnpolizei, deren Räume an das Lokal grenzten, kamen zwei uniformierte Polizisten und nahmen ihn mit. Er wehrte sich nicht. Bestimmt rechnete er damit, dass der Kerl keine Anzeige erstatten würde. Die Bullen würden ihn volllabern von wegen Knast und Bewährung und den ganzen Quark und ihn dann laufen lassen.
»Was wollten Sie von dem?«, fragte Süden nach einer Weile. Er stand am Tresen, als wäre nichts geschehen. Die Gäste redeten über ihn. Susi ließ sich auf den Schrecken erst einmal eine Zigarette von ihrem Kollegen geben.
»Ich kenn den nicht«, sagte Schilff. Auf Susis Frage, ob er sich das Gesicht waschen wolle, hatte er nein gesagt. Aber sie stellte ein frisches Bier vor ihn hin, auf Kosten des Hauses. Auch wenn sie ahnte, dass sie es später aus eigener Tasche würde bezahlen müssen.
»Beim nächsten Mal bring ich ihn um«, sagte Schilff.
Süden strich sich die Haare aus dem Gesicht. Auf den Innenflächen seiner Hände verspürte er ein leichtes Brennen. Es war lange her, dass er jemand geschlagen hatte. Beruflich musste er das nie tun, und privat? Manchmal, im Winter, wenn es ausnahmsweise schneite und zufällig eine Wiese in der Nähe war, wälzte er sich mit seinem Freund Martin Heuer auf dem Boden. Und sie kämpften miteinander. Wie Kinder. Bis einer aufgab. Meistens Martin. Verglichen mit Süden war er ein leeres Hemd, ganz gleich, wie dick seine Daunenjacke sein mochte. Süden konnte ihn umherschleudern wie eine Puppe.
Wo war Martin überhaupt? Gegen halb vier hatte er das Dezernat verlassen. Seitdem hatte er sich nicht mehr
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