Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition)
Schrien und stöhnten. Angefeuert von ihren Frauen, Freundinnen und Verehrerinnen. Erigiertes Brauchtum, sagte sein Vater. Und Niklas fragte, was bedeutet erigiert? Und sein Vater sagte: Zeig ich dir später. Und was er versprach, das hielt er.
»Er hat mich nie angelogen«, sagte Schilff.
Ariane bewegte sich nicht. Auf der Hauptstraße fuhr er durch die Stadt. Bog am Kaufhaus ab. Sah die Bäckerei, in der er jeden Samstag Brezen und Laugensemmeln gekauft hatte. Und nebenan die Metzgerei, in der er als Kind ein Wiener Würstchen oder eine Scheibe Wurst geschenkt bekam.
»Ein Radl, Radl«, sagte er laut.
Im ehemaligen Feuerwehrhaus war jetzt die Polizei untergebracht. Er ließ das Eckhaus links liegen. Und nahm die schmale Straße, die direkt auf einen Wald zuführte.
Und am Rand des Waldes stand das Haus.
Er ließ den Motor laufen. Und stieg aus.
Dreihundert Meter entfernt verschloss sein Vater die Badezimmertür hinter sich und seinem neunjährigen Sohn. Und zeigte ihm eine Erektion. Niklas erschrak fürchterlich. Und traute sich nicht hinzusehen. Eine Sekunde genügt manchmal, um etwas zu erkennen, sagte sein Vater. Und dann erzählte er etwas über Männer und Frauen, wovon Schilff kein Wort behalten hatte. Dann sperrte sein Vater die Badezimmertür wieder auf, und sie gingen in den Garten, wo seine Mutter am Holztisch saß, bekleidet mit einem grüngelben Bikini. Sie las in einem Buch. Niklas hatte ein unbekanntes Gefühl. Und als sein Vater sie ins Haar küsste und ihre Schultern streichelte und ihn anlächelte, verzog er sich in sein Zimmer und dachte über die beiden Affen nach, die die Amerikaner in einem Raumschiff ins All geschossen hatten.
Jahre später, an jenem Morgen auf der Rampe des Lagerhauses, war er sich wie ein Affe im Weltall vorgekommen. Ein Niemand im Nichts.
Jetzt war er hier. Jetzt war er zurückgekehrt. Er war auf der Erde. Da ist das Haus. Siehst du es?
»Schau hin«, schrie er den Mantel an.
Ariane zuckte zusammen. Der Mantel glitt ihr von der Schulter. Sie riss die Augen auf. Und starrte in ein rissiges Gesicht.
»Was wollen Sie von mir?«, sagte sie stockend.
»Steig aus«, sagte er. Und zerrte sie aus dem Auto.
Sie wankte. Sie hatte geträumt. Jemand hatte nach ihr gerufen. Sie hatte Iris gesehen. Sie wollten zusammen etwas unternehmen. Sie hatte einen Hund gestreichelt und seine Zähne auf ihrer Hand gespürt.
»Wo haben Sie mich hingebracht?« Sie faltete die Hände und betrachtete sie. Sie fühlten sich pelzig an, jeder Finger taub und steif. Außerdem fror sie. Aber das war nicht schlimm.
Schlimm war, dass sie sich nicht von Iris verabschiedet hatte. Sie war weg und hatte ihre einzige Freundin nicht mehr umarmt.
Die Räume wirkten auf sie wie Orte in einem Traum.
Seidenvorhänge hingen an den Fenstern. Weiße Wände ohne Bilder. Mit weißen Laken bedeckte Möbel. Ein langer Tisch aus dunklem Holz, an dem mindestens fünfzehn Personen Platz hatten. Teppiche, auf denen man keinen Schritt hörte. Gedämpftes Licht aus Salzkristalllampen.
Sie bewegte sich von einem Zimmer in das andere, als würde sie durch die Wände hindurch die Räume wechseln und nicht durch die Tür.
Dann ging der Mann, dessen Name ihr nicht mehr einfiel, vor ihr eine Treppe hinauf. Ariane ließ ihre Hand über das hölzerne Geländer gleiten. Und dachte vage an den Maler, der ein Versteck im eigenen Haus hatte.
»Hier bleibst du.«
Woher kam die Stimme? Sie hob den Kopf. Wo war sie?
Der Mann stand nicht vor ihr. Sie drehte sich um. Hinter ihr war er auch nicht. Sie erschrak. Und stieß mit dem Kopf gegen die schräge Wand.
»Hier bist du sicher.«
Und wenn es tatsächlich ein Traum war?
Und sie stieß einen Schrei aus, der sie so erschreckte, dass sie augenblicklich wieder verstummte. Ihr Herz schlug schnell. Und sie fror. Fror.
Sie befand sich in einem weißen Badezimmer mit schrägen Wänden. Kein Fenster. Das Regal über dem Waschbecken war leer. Der Deckel der Toilette war heruntergeklappt.
»Ich muss dich knebeln.«
Endlich fiel ihr sein Name wieder ein.
»Bitte nicht, Herr Schilff«, sagte sie. Und hörte sich sprechen. Und wunderte sich über ihre Stimme.
»Aber du wirst hier rumschreien«, sagte er.
Er stand nicht vor ihr. Und nicht hinter und nicht neben ihr. Sie wollte noch mal seinen Namen sagen. Aus irgendeinem Grund traute sie sich nicht.
Da spürte sie etwas an der rechten Hand, mit der sie den Mantel zusammenhielt. Sie tastete mit den Fingern. Und wusste sofort, was
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