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Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition)

Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition)

Titel: Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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    Im Licht der Scheinwerfer tauchte das blaue Schild neben der Autobahn auf. Unwillkürlich bremste er ab.
    Sekundenlang war er irritiert.
    Krampfhaft hielt er das Lenkrad fest. Schaltete in den dritten Gang. Er fuhr immer noch hundertzwanzig. Der Motor heulte auf. Er wollte zurückschalten. Kuppelte falsch. Das kreischende Geräusch des Getriebes machte ihn so wütend, dass er noch mehr Gas gab und im dritten Gang weiterraste. So lange, bis es nur noch hundert Meter bis zur Ausfahrt waren.
    Er hatte keinen Schlüssel. Ich brauch keinen Schlüssel. Früher hatte er auch keinen gebraucht. Früher hatte er ein Fenster offen gelassen. Heute würde er ein Fenster einschlagen. Hört niemand dort am Waldrand. Weit weg vom Kurbetrieb. Scheißkleinstadt. Mama wär verratzt gewesen, wenn sie sich nicht ein Zimmer in der Stadt genommen hätte. Verratzt, verratzt. Verrecktverratzt.
    Er riss das Lenkrad herum. Und bremste. Arianes Oberkörper kippte nach vorn. Sie schlug mit der Schulter gegen das Armaturenbrett. Und sackte zurück. Ihre Lider öffneten sich. Aber sie schlief weiter. Oder war sie bewusstlos?
    Schilff patschte ihr auf den Hinterkopf.
    »Hm?«, machte sie abwesend. Er ließ sie in Ruhe.
    Auf der Landstraße bog er nach links ab. Intuitiv. Wie aus Gewohnheit. Grauschwarzes Wolkengetüm in der Ferne. Er war zufrieden.
    Mit einer hastigen Bewegung schaltete er vor dem gelben Ortsschild wieder in den dritten Gang und stützte den Ellbogen am Seitenfenster ab. Keiner weiß, dass ich hier bin. Ich fahr zu dem Haus. Ich werd die Wohnung sehen. Dann sperr ich die Nutte ein. Und fahr in die Stadt zurück. Und geh zum Test.
    An seinem Plan würde er nichts ändern. Drei Monate lang. Mich erwischen sie nicht. Mir können sie nichts beweisen. Ich bin nicht wichtig. Mich gibt’s nicht mehr.
    Am liebsten hätte er die zu engen schwarzen Lederhandschuhe ausgezogen. Hätte das Radio angestellt und mit den bloßen Händen aufs Lenkrad getrommelt. Vielleicht gesummt. Oder gesungen. Schade, dass ich Jimmys Mundharmonika nicht hier hab. It’s a holy instrument, sagte der Typ, von dem ich sie gekauft habe. Der brauchte Kohle für seinen Stoff. Irgendein Gitarrist aus San Francisco. Das war das Einzige in seinem Leben, was noch einen Wert hatte, die zerkratzte Mundharmonika.
    »Er war happy über den Verkauf, jetzt konnte er sich endlich den goldenen Schuss setzen und Jimmy besuchen«, sagte Schilff.
    Aus dem Mantel, den Ariane über den Kopf gezogen hatte, kam ein Brummen.
    Für Schilff war alles Wirklichkeit. Keine Unterschiede mehr. Er fuhr ein Auto. Er kannte die Richtung. Er verpasste keine Abzweigung. Er fühlte das Haar seiner Mutter, die sich zu ihm umdrehte. Und er dachte: So also riecht Rot. Und er schnupperte. Und von irgendwoher zog Odelgeruch ins Innere des Wagens. Und seine Mutter sagte leise: Morgen, Süßer! Und sie streckte den Arm aus, um seinem Vater übers Gesicht zu streichen. Das konnte Niklas nicht sehen, weil er von ihm abgewandt auf der Seite lag. Doch er wusste es von anderen Malen, wenn er zur Decke hinaufblickte und die Hand an seinen Augen vorüberzog. Wie ein weißer Komet.
    Als tauche er in ein neues, versöhnliches Universum, hatte er ein gieriges Verlangen nach totaler Anwesenheit.
    So erreichte er die Kleinstadt, die er seit seinem dritten Lebensjahr kannte.
    Die Mauern der ehemaligen Kaserne am Ortsanfang, heute ein Wohnblock für Postangestellte, hatten denselben gelblichen Anstrich wie immer. Dahinter das verfallene Bauernhaus mit dem schiefen Balkon. Gegenüber die Aral-Tankstelle mit den drei Zapfsäulen. Und wenige Meter entfernt das Bahnhofsgebäude aus unverputztem Stein mit dem angrenzenden Lagerhaus, auf dessen Rampe die Zeitungslieferanten jeden Morgen ihre Stapel für die örtlichen Austräger deponierten. Bestimmt taten sie das noch heute. Kurz nach seinem fünfzehnten Geburtstag hatte er im frühen Morgenlicht dort gehockt, nachdem er die ganze Nacht nicht geschlafen und seinem Vater beim Weinen zugesehen hatte. Schon wach?, sagt sein Vater. Und seine Mutter sagt: Und du? So reden sie fast immer. Und Niklas weiß, jetzt landen Mamas Lippen gleich auf meiner Stirn, und ich kann oben in ihr Nachthemd schauen.
    Auf einer Grünfläche, an deren Rand zwei Bänke standen, ragte ein Maibaum in den Himmel. Zu dessen Aufstellung hatte ihn sein Vater nur mitgenommen, um sich über die Prozedur lustig zu machen. Mit Hilfe langer Stangen hievten die Männer den Stamm in die Höhe.

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