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Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition)

Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition)

Titel: Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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werden.
    Niemals wär ich Pianistin geworden. Oder Sängerin. Oder Erfinderin. Das hatte ihr Udo einmal vorgeschlagen. Er arbeitete auf dem Patentamt, zuständig für Gebrauchsgegenstände. Automatische Dosenöffner, magnetische Spazierstöcke für Blinde, Rasierapparate mit integriertem Aftershave. Solche Sachen. Er hatte ihr vorgeschlagen, sich etwas auszudenken aus dem Bereich, den sie kannte. Also aus dem Milieu. Und sie hatte tatsächlich nachgedacht. Allerdings traute sie sich nicht, Iris um Rat zu fragen. Der wäre garantiert was eingefallen.
    So eine Verschwendung. Wenn sie allein war, wollte sie die Zeit nicht mit lächerlichen Gedanken verschwenden. Sie wollte still dasitzen. Und ein Buch lesen. Und über die Menschen in dem Buch nachdenken. Und überlegen, ob sie etwas lernen konnte von ihnen. Manchmal hatte sie am Ende eines Buches das Gefühl, ihr Leben jetzt besser führen zu können. Es fiel ihr leichter, wieder zur Arbeit zu gehen. Den Männern ins Gesicht zu sehen. Die Nächte durchzustehen. Die Schläge zu ertragen. Die verächtlichen Blicke.
    Jetzt, hier in dem kleinen Badezimmer mit den schiefen Wänden, dachte sie plötzlich an die Bücher, die sie gelesen hatte. An kein bestimmtes. An die Bücher im Allgemeinen, die sie gekauft oder von Iris geschenkt bekommen hatte. Außer Iris schenkte ihr niemand Bücher. Von den Büchern, dachte sie und kam sich für einen Moment vor wie Udo, reglos daliegend, die Hände gefaltet auf dem Bauch, in einem fremden Haus, von den Büchern hab ich gelernt, allein zu sein. Auch wenn ich's nicht will. Auch wenn ich lieber woanders wär, unter Leuten, bei Iris.
    Dann fiel ihr das Büchlein mit den Tiergeschichten in der Innentasche ihres Mantels ein. Und die Gewissheit, es bei sich zu haben, weckte in ihr den Wunsch, sich eine eigene Geschichte auszudenken und damit ihren Vater zu überraschen. Im Traum.

    Über die Herkunft der Waffe in Ariane Jennerfurts Wohnung, eine gewöhnliche russische Pistole, Kaliber 5.45 mit Bleikernmunition, erfuhr Sonja Feyerabend von ihren Kollegen nichts Neues. Sie gingen davon aus, dass die Pistole jemand aus dem Milieu gehört hatte, der sie unauffällig loswerden wollte. Registriert war sie natürlich nicht. Auch das Ergebnis der Spurensicherung brachte keine Erkenntnisse darüber, was wirklich vorgefallen war. Bis auf weiteres blieb die Wohnung versiegelt.
    Auf Wunsch von Süden fuhr Sonja ein weiteres Mal ins »Glücksstüberl«, um mit Iris Frost zu sprechen. Die Antworten hätte sie sich inzwischen selbst geben können.
    Danach klingelte sie bei Martin Heuer Sturm. Er öffnete nicht. Zum zehnten Mal rief sie bei ihm an und hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Sie ging nicht davon aus, dass er volltrunken in der Wohnung lag. Oder tot. Sie ging davon aus, dass er auf Tour war. Dass irgendetwas geschehen war, das ihn aus der Balance geworfen und in jenen Teufelskreis katapultiert hatte, aus dem er erst nach Tagen wieder herausfand.
    »Er war hier«, sagte die sechsundfünfzigjährige Lilo. Gemeinsam mit drei Freundinnen bot sie in der Nähe der Siemens-Siedlung erotische Dienstleistungen an. »Er hat eine Flasche Wodka mitgebracht und versucht, mit mir zu schlafen. Irgendwann hat's geklappt.«
    Bei Lilo war der Hauptkommissar mehr als ein Kunde. Er kam nicht als Fremder und ging als Freund, wie der Slogan eines Bordells lautete. Heuer kam als Freund und ging als Fremder. Jedenfalls hatte Lilo diesen Eindruck, wenn er wieder einmal vor Alkohol und Schwermut kaum noch seinen Namen wusste.
    »Wo könnte er sein?«, fragte Sonja.
    In der Wohnung, in der jede der vier Frauen in einem eigenen Zimmer arbeitete, hing ein süßer Geruch. Im Flur brannten rote Wachslichter. Wie auf dem Friedhof, dachte Sonja.
    »Er hat nichts gesagt. Ich wollt, dass er seinen Rausch ausschläft, er bleibt ja öfter mal hier. Er wollte raus. Er hat gesagt, er kriegt Klaustrophobie in meinem dunklen Zimmer. Mal was Neues. Klaustrophobie. Er hat sich geduscht und ist weg.«
    Lilo hatte eine Dusche in ihrem Zimmer. Für extrem transpirierende Gäste. Zu denen sie Heuer nicht zählte.
    »Was ist passiert?«
    »Der übliche Rappel«, sagte Lilo. »Sie arbeiten mit ihm, Sie müssen doch über ihn Bescheid wissen.«
    »Vielleicht ist er in der ›Goldenen Taube‹.«
    »Vielleicht.«
    Sonja fuhr hin. In dem Lokal im äußersten Norden der Stadt waren alle Nischen besetzt. Heuer war nicht da.
    »Ich hab ihn schon lang nicht mehr gesehen«, sagte Betty,

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