Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition)
vorgelesen hatte, wusste er nicht mehr. Er hörte nur noch ihre Stimme, diesen Singsang, der ihm so gefiel. Und lange glaubte er, sie würde nur für ihn so lesen und später, weil sie ihm eine Freude bereiten wolle, auch auf der Bühne so sprechen. Sie erklärte ihm, ihr Tonfall komme daher, dass sie in der Schweiz geboren sei und nie gelernt habe, perfekt hochdeutsch zu sprechen.
Jedes Mal wenn sie zu Ende gelesen hatte, erhob sich Niklas und klatschte in die Hände. Dann räumte er seine Sachen auf. Oder putzte die Badewanne.
Wie oft hatte er Unsinn getrieben, nur um mit seiner Mutter verhandeln zu können. Er glaubte sich daran zu erinnern, dass sie ihm einmal nur fünf Minuten lang vorlas. Weil er Kellner gespielt und mehrere Teller zerdeppert und sich mit den Scherben die Hände aufgeritzt hatte, bis er blutete. Was sie zunächst nicht bemerkte. Er gab keinen Laut von sich. Saß auf dem Küchenboden. Betrachtete staunend die rote Flüssigkeit, die über seine Finger rann. Seine Mutter kam herein, und er reagierte trotzig wie noch nie. Entweder sie las ihm eine Stunde lang Gedichte vor, oder er würde immer weiter ritzen. Und wenn ihm das Rot nicht mehr gefalle, würde er Blau dazumischen. Oder Gelb. Das sehe bestimmt schön aus.
An diesem Nachmittag erhielt er von seiner Mutter die ersten und einzigen Ohrfeigen, drei hintereinander. Er heulte. Seine Mutter zerrte ihn ins Bad. Wusch seine Hände, was ihm unglaublich weh tat. Sie trocknete seine Wunden und klebte Pflaster darauf. Willst du was sagen?, schrie sie. Er weinte ununterbrochen. Es war drei oder vier Uhr, und er musste ins Bett. Du rührst dich keinen Millimeter weg, verstanden? Durch das Fenster schien die Sonne herein. Er hörte die Glocken der Kühe und roch den Duft der Bettwäsche. Und nebenan telefonierte seine Mutter. Was sie sagte, konnte er nicht verstehen. Aber er wusste, sie sprach mit seinem Vater. Niklas wartete, bis sie fertig war, dann presste er die Lippen aufeinander. Atmete tief ein. Und stieg aus dem Bett. Lange verharrte er vor der geschlossenen Tür. Streckte dann zaghaft den Arm aus. Traute sich nicht. Dann drückte er mit beiden Händen die Klinke.
In der Küche kehrte seine Mutter die Scherben zusammen. Sie kniete mit dem Rücken zu ihm. Und das fand er unsagbar gemein. Er hatte keine Worte dafür. Gemein war der einzige Ausdruck, der ihm durch den Kopf schoss. In ihrem weißen langen Kleid mit dem gelben Gürtel und den hochgesteckten Haaren, mit bloßen Füßen in ihren Straßenschuhen, die sie wegen der Scherben angezogen hatte. Er wollte nicht, dass sie vor ihm knien musste. Das hatte sie nicht verdient. Sie war eine Schauspielerin und die schönste von allen.
Entschuldigung, sagte er leise. Und weil sie nicht gleich reagierte, sagte er es noch einmal. Lauter. Entschuldigung, Mama.
Sie drehte den Kopf. Er presste die Lippen so fest aufeinander, dass es schmerzte. Aber weinen wollte er nicht. Sie sah ihn an, die Stirn in Falten. Und eine Ewigkeit passierte nichts. In dieser Ewigkeit, dachte Schilff in seinem Zimmer, Blick auf die Wand, hörte die Welt auf. Und fing von neuem an.
Gut, sagte seine Mutter, ich nehme deine Entschuldigung an. Und jetzt geh wieder ins Bett.
Lieber wäre er nach draußen auf die Wiese gelaufen und hätte den Kühen alles erzählt. Aber das konnte er morgen auch noch tun. Es gab ja jetzt wieder ein Morgen.
Wach wurde er von einer Berührung auf der Stirn. Seine Mutter saß neben ihm auf der Bettkante. Er war eingeschlafen und hatte es nicht gemerkt.
Sie strich ihm über den Kopf. Und da sah er das Buch in ihrer Hand. Fünf Minuten, sagte sie, weil du dich entschuldigt hast.
Weil ich mich entschuldigt hab. Warum hab ich mich entschuldigt, warum? Ich hätt noch tiefer schneiden sollen. Noch tiefer. Und dann hätt ich das Blut aufgeleckt. Und sie hätte nichts machen können. Ihr weißes Kleid wär auf einmal rot gewesen. Ich hätt meine Hände in die Pfützen getunkt. Und sie beschmiert. Das weiße lange Kleid. Warum hab ich mich entschuldigt? Wer hat sich bei mir entschuldigt? Sie nicht! Sie nicht! Ich stand an ihrem Bett in der Klinik. Und sie hat sich nicht entschuldigt. Sie hat mich nicht mal angesehen. Sie lag bloß da. Und die Geräte summten. Und die Sonne schien. Da war kein Vorhang vor dem Fenster. Eine Vase mit gelben Blumen stand da. Und die Sonne schien rein. Und ich stand neben ihrem Bett. Und ich wollt ihr sagen, dass ich jetzt weiß, wie das ist, wenn man mit jemand schläft.
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