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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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jemand verfolgte, und das machte mir Angst. Schreckliche Angst. Erst als ich im Taxi saß und aufatmen konnte, wurde mir plötzlich klar, dass du es gewesen sein könntest.«
    »Shimamoto«, sagte ich. »Dieser Mann hat mir damals etwas gegeben. Ich weiß nicht, in welcher Beziehung du zu ihm stehst, aber …«
    Shimamoto legte den Zeigefinger auf ihre Lippen und schüttelte leicht den Kopf. »Lass uns nicht mehr davon sprechen, bitte, frag nicht weiter«, sollte das vermutlich heißen.
    »Bist du verheiratet?«, fragte sie, wohl um das Thema zu wechseln.
    »Ja, ich habe zwei Kinder«, sagte ich. »Beides Mädchen. Sie sind noch ziemlich klein.«
    »Wie schön, ich finde, Mädchen passen zu dir. Einen genauen Grund kann ich dir nicht nennen, aber ich spüre es irgendwie.«
    »Kann sein.«
    »Doch.« Shimamoto lächelte. »Jedenfalls hast du kein Einzelkind.«
    »Das war keine Absicht. Es hat sich einfach so ergeben.«
    »Wie fühlt man sich mit zwei Töchtern?«
    »Ein bisschen seltsam. Die ältere geht in den Kindergarten. Dort sind über die Hälfte der Kinder Einzelkinder. Seit unserer Kindheit hat sich viel geändert. In der Stadt sind Einzelkinder heute die Normalität.«
    »Wir waren eindeutig unserer Zeit voraus.«
    »Mag sein«, sagte ich und lächelte. »Vielleicht nähert die Welt sich uns an. Manchmal staune ich, wenn ich den beiden beim Spielen zusehe. Sie wachsen so anders auf. Ich habe ja immer allein gespielt und dachte, das wäre bei allen Kindern so.«
    Das Klaviertrio beendete seine Darbietung von »Corcovado«, und einige Gäste klatschten. Wie immer zu vorgerückter Stunde gingen die Musiker mehr aus sich heraus, ihr Spiel wurde ungezwungener und intimer. Der Pianist trank zwischen den Nummern von seinem Rotwein, und der Bassist rauchte.
    Shimamoto nahm einen Schluck von ihrem Cocktail. »Ehrlich gesagt habe ich lange gezweifelt, ob ich überhaupt herkommen soll. Fast einen Monat lang habe ich mit mir gerungen. Ich hatte irgendwo in einer Zeitschrift geblättert und gelesen, dass du Besitzer einer Bar bist. Anfangs glaubte ich an eine Verwechslung. Du schienst mir überhaupt nicht der Typ zu sein, der eine Bar eröffnet. Aber der Name stimmte und das Gesicht auf dem Foto auch. Hajime, der Junge von damals. Allein dein Bild zu sehen, machte mich froh. Aber ich wusste nicht, ob es gut wäre, dich wiederzusehen. Vielleicht wäre es für uns beide das Beste, wenn das nicht geschah. Ich fand, ich sollte mich mit dem Wissen begnügen, dass es dir gut geht.«
    Ich hörte ihr schweigend zu.
    »Aber jetzt wusste ich, wo ich dich finden konnte, und wollte nur kurz vorbeischauen, um dich zu sehen. Also setzte ich mich dort drüben hin und beobachtete dich. Ich hatte mir vorgenommen, einfach wieder zu gehen, falls du mich nicht bemerken würdest. Aber ich konnte mich nicht beherrschen. Die Erinnerungen überwältigten mich, und ich musste dich ansprechen.«
    »Aber wieso denn?«, fragte ich. »Ich meine, wieso fandest du es besser, mich nicht zu sehen?«
    Sie strich mit dem Finger über den Rand ihres Cocktailglases und überlegte.
    »Ich dachte, du würdest alles Mögliche von mir wissen wollen. Zum Beispiel, ob ich verheiratet bin, wo ich wohne und was ich bisher gemacht habe. So etwas eben. Habe ich recht?«
    »Ja, das ist doch ganz natürlich.«
    »Das finde ich auch.«
    »Aber du möchtest über diese Dinge nicht sprechen?«
    Sie lächelte verlegen und nickte. Shimamoto schien über so viele Arten des Lächelns zu verfügen. »So ist es. Frag nicht nach den Gründen. Ich will einfach nicht über mich sprechen. Vielleicht wirkt das überspannt, so, als würde ich absichtlich die Geheimnisvolle spielen. Deshalb dachte ich, es wäre vielleicht besser, dich nicht zu sehen. Ich will nicht, dass du mich für eine affektierte Person hältst. Das ist einer der beiden Gründe, warum ich nicht kommen wollte.«
    »Und was ist der andere?«
    »Angst vor Enttäuschung.«
    Ich betrachtete das Glas in ihrer Hand. Ihr schulterlanges glattes Haar, ihre schmalen, fein gezeichneten Lippen. Ihre unendlich tiefschwarzen Augen. Über ihren Lidern zeichnete sich eine kleine, nachdenkliche Linie ab, die mich an einen fernen Horizont denken ließ.
    »Ich hatte dich früher so gern, und ich wollte nicht enttäuscht werden, wenn ich dich jetzt wiedersah.«
    »Und bist du enttäuscht von mir?«
    Sie schüttelte leicht den Kopf. »Ich habe dich die ganze Zeit von dort drüben angesehen. Zuerst erschienst du mir wie ein anderer

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