Südlich der Grenze, westlich der Sonne
plötzlich. Gegen zehn waren nur noch wenige Tische besetzt. Aber die Frau saß noch immer an der Theke und trank schweigend ihren Daiquiri. Meine Aufmerksamkeit erhöhte sich. Anscheinend wartete sie doch auf niemanden, denn sie sah kein einziges Mal auf die Uhr oder zur Tür.
Irgendwann nahm sie ihre Tasche und glitt von ihrem Barhocker. Es war fast elf Uhr. Wenn sie mit der U-Bahn nach Hause fahren wollte, war es Zeit, aufzubrechen. Doch sie ging nicht, sondern schlenderte wie beiläufig in meine Richtung und setzte sich auf den Hocker neben mir. Ich nahm einen Hauch ihres Parfums wahr. Als sie es sich bequem gemacht hatte, zog sie ein Päckchen Salems aus der Handtasche und steckte sich eine in den Mund. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich jede ihrer Bewegungen.
»Eine sehr schöne Bar haben Sie da«, sagte sie.
Ich schaute von meinem Buch auf und sah sie erstaunt an. Dann traf es mich wie ein Hieb. Der Atem in meiner Brust schien sich zu einer festen Masse zu verdichten. War das die Kraft des Sogs?
»Danke«, sagte ich. Offenbar wusste sie, dass ich der Inhaber war. »Es freut mich, dass sie Ihnen gefällt.«
»Ja, sie gefällt mir sehr.« Sie sah mir ins Gesicht und lächelte liebenswürdig. Was für ein charmantes, strahlendes Lächeln. In ihren Augenwinkeln erschienen bezaubernde Fältchen. Ihr Lächeln erinnerte mich an irgendetwas.
»Auch die Musik ist erstklassig«, sagte sie und deutete auf das Klaviertrio. »Hätten Sie wohl Feuer?«
Da ich keine Streichhölzer bei mir hatte, fragte ich den Barkeeper nach einem der hauseigenen Briefchen. Dann gab ich ihr Feuer.
»Danke«, sagte sie.
Ich sah ihr ins Gesicht. Jetzt endlich erkannte ich sie.
»Shimamoto«, sagte ich heiser.
»Du hast ganz schön lange gebraucht«, sagte sie amüsiert, nachdem sie einen Moment hatte verstreichen lassen. »Ich dachte schon, du würdest mich nie erkennen.«
Ich starrte sie sprachlos an, als hätte ich eine geheimnisvolle Apparatur vor mir, von der ich bisher nur gerüchteweise gehört hatte. Es war wahrhaftig Shimamoto, die dort vor mir saß. Doch ich konnte nicht fassen, dass sie es wirklich war. So lange hatte ich immer wieder an sie gedacht. Und nie geglaubt, dass ich sie jemals wiedersehen würde.
»Das ist ein schöner Anzug«, sagte sie. »Er steht dir ausgezeichnet.«
Ich nickte nur stumm. Mein Mund verweigerte mir den Dienst.
»Weißt du, Hajime, du siehst jetzt viel besser aus als früher. Viel kräftiger.«
»Ich schwimme viel«, brachte ich endlich hervor. »Ich habe in der Mittelstufe damit angefangen. Seither mache ich das.«
»Schwimmen muss herrlich sein.«
»Ja, und jeder kann es lernen«, sagte ich. Doch kaum hatte ich es gesagt, fiel mir ihr Bein ein. Was redete ich da? Verwirrt wollte ich noch etwas hinzufügen, aber es kam nichts. Ich wühlte in meinen Hosentaschen nach einer Schachtel Zigaretten. Dann fiel mir ein, dass ich seit fünf Jahren nicht mehr rauchte.
Shimamoto verfolgte meine Bewegungen, ohne etwas zu sagen. Dann winkte sie dem Barkeeper und bestellte noch einen Daiquiri. Wenn Shimamoto jemanden um etwas bat, tat sie das stets mit einem so bezaubernden Lächeln, dass ihr jeder alles auf einem Silbertablett serviert hätte. Bei einer anderen Frau hätte ein solches Lächeln vielleicht aufgesetzt gewirkt. Doch wenn Shimamoto lächelte, lächelte die ganze Welt.
»Blau ist noch immer deine Lieblingsfarbe«, sagte ich.
»Ja, Blau hat mir schon immer gefallen. Dass du das noch weißt.«
»Ich erinnere mich noch an fast alles. Wie du deine Bleistifte gespitzt hast und wie viele Würfel Zucker du in deinen schwarzen Tee genommen hast.«
»Wie viele denn?«
»Zwei.«
Sie sah mich mit zusammengekniffenen Augen an.
»Sag mal, Hajime, warum bist du mir eigentlich damals hinterhergegangen? Ich glaube, es war vor acht Jahren.«
Ich seufzte. »Ich wusste nicht, ob du es warst. Die Frau ging genau wie du. Aber du schienst es nicht zu sein. Ich konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Deshalb bin ich dir gefolgt, obwohl das vielleicht nicht das richtige Wort ist. Ich suchte eine Gelegenheit, dich anzusprechen.«
»Aber warum hast du es dann nicht getan? Warum bist du nicht direkt zu mir gekommen? Das wäre doch schneller gegangen.«
»Ich weiß nicht, warum«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Etwas hielt mich zurück. Es hatte mir buchstäblich die Sprache verschlagen.«
Sie biss sich kurz auf die Lippen. »Ich habe dich damals nicht gleich erkannt. Ich hatte nur das Gefühl, dass mich
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