Südlich der Grenze, westlich der Sonne
Mensch. Du bist so kräftig geworden und trägst einen Anzug. Doch als ich genauer hinsah, erkannte ich den Jungen von früher. Weißt du was? Du bewegst dich noch fast genauso wie damals mit zwölf.«
»Nein, das wusste ich nicht«, sagte ich. Ich versuchte zu lachen, aber es gelang mir nicht.
»Deine Hände, deine Augen, wie du mit den Nägeln trommelst und die Stirn runzelst, wenn dir etwas nicht passt. Alles genau wie früher. Du trägst jetzt zwar einen Armani-Anzug, aber darunter hast du dich nicht verändert.«
»Der ist nicht von Armani«, sagte ich. »Nur das Hemd und die Krawatte, aber nicht der Anzug.«
Shimamoto lächelte.
»Shimamoto«, sagte ich. »Ich sehne mich schon lange danach, dich wiederzusehen. Ich habe dir so viel zu sagen.«
»Ich habe mich auch nach dir gesehnt«, sagte sie. »Aber du bist nicht gekommen. Das weißt du schon, oder? Als ihr damals umgezogen seid, habe ich unentwegt auf dich gewartet. Warum bist du nicht mehr gekommen? Ich habe mich sehr verlassen gefühlt. Ich dachte, du hättest in der neuen Stadt neue Freunde gefunden und mich vergessen.«
Shimamoto drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus. Sie trug einen farblosen Nagellack. Ihre Nägel erinnerten an exquisites Kunsthandwerk, so glatt und zugleich dezent wirkten sie.
»Ich hatte Angst«, sagte ich.
»Angst?«, fragte Shimamoto. »Aber wovor denn? Vor mir?«
»Nein, nicht vor dir. Angst, zurückgewiesen zu werden. Ich war noch ein Kind. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass du wirklich auf mich warten würdest. Ja, ich fürchtete, von dir zurückgewiesen zu werden. Dass meine Besuche dir lästig sein könnten. Deshalb besuchte ich dich nicht mehr. Ich fand es besser, die schönen Erinnerungen zu bewahren, als eine bittere Erfahrung zu machen.«
Sie neigte leicht den Kopf und rollte einige Cashewnüsse auf ihrer Handfläche. »Alles nicht so einfach, oder?«
»Nein«, sagte ich.
»Wir hätten so viel länger Freunde bleiben können. Tatsächlich habe ich nach dir weder in der Schule noch an der Uni mit irgendeinem Menschen Freundschaft geschlossen. Ich war immer allein. Also habe ich mir ständig ausgemalt, wie schön es wäre, wenn du bei mir wärst. Wenn wir uns wenigstens geschrieben hätten. Ich glaube, dann wäre vieles anders verlaufen. Das Leben wäre leichter zu ertragen gewesen.« Shimamoto schwieg einen Moment lang. »Ich weiß nicht warum, aber ab der Mittelstufe kam ich in der Schule nicht mehr richtig mit. Und deshalb zog ich mich immer mehr zurück. So was nennt man wohl einen Teufelskreis.«
Ich nickte.
»Auf der Grundschule ging es noch ganz gut, aber danach wurde es katastrophal. Es war, als lebte ich auf dem Grund eines Brunnens.«
In den zehn Jahren von der Universität bis zu meiner Hochzeit mit Yukiko hatte ich dasselbe erlebt. Es braucht nur einmal etwas schiefzugehen, und alles andere geht auch schief. Ein Scheitern folgt dem anderen. Ganz gleich, was man tut, es gibt kein Entrinnen. Es muss jemand kommen, der bereit ist, einen herausziehen.
»Von Anfang an hatte ich dieses kaputte Bein. Deshalb konnte ich nie tun, was normale Menschen tun. Also las ich meine Bücher und ließ niemanden in mein Herz schauen. Außerdem falle ich äußerlich auf. Deshalb halten mich viele Leute für eine emotional gestörte, arrogante Frau. Aber vielleicht bin ich das ja auch.«
»Wahrscheinlich bist du einfach zu schön«, sagte ich.
Sie zog eine Zigarette aus der Schachtel und steckte sie sich in den Mund. Ich riss ein Streichholz an und gab ihr Feuer.
»Findest du mich wirklich schön?«, fragte Shimamoto.
»Das sagt man dir doch sicher ständig.«
Shimamoto lachte. »Nein. Ehrlich gesagt mag ich mein Gesicht nicht besonders. Darum freue ich mich, das von dir zu hören«, sagte sie. »Leider mögen mich andere Frauen meistens nicht. Dabei habe ich mir so oft gewünscht, ein ganz normales Mädchen zu sein, das ganz normale Freundschaften schließen kann. Dafür hätte ich auf alle Komplimente verzichtet.«
Shimamoto berührte meine Hand, die auf der Bar lag. »Aber ich bin froh, dass du glücklich geworden bist.«
Ich schwieg.
»Du bist doch glücklich?«
»Ich weiß es nicht genau. Zumindest bin ich nicht unglücklich und auch nicht einsam«, sagte ich. »Aber manchmal denke ich, dass die Zeit, als wir beide in eurem Wohnzimmer zusammen Musik gehört haben, die glücklichste in meinem Leben war«, fügte ich nach einer Pause hinzu.
»Weißt du, dass ich die Platten noch alle habe? Nat King
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