Südlich der Grenze, westlich der Sonne
er.
»Hat sie irgendwelche Narben?«
»Nein.«
»Was ist es dann?«
Er trank von seinem Whiskey und stellte das Glas behutsam auf der Theke ab. Eine Weile sah er mich nur an. Er wirkte ratlos und schien sich unbehaglich zu fühlen. Aber es lag noch ein anderer Ausdruck auf seinem Gesicht. Plötzlich erkannte ich den Schuljungen von damals wieder. Er hob den Kopf und sah in die Ferne. Als folge sein Blick dem Lauf eines Flusses.
»Ich kann es nicht beschreiben«, sagte er dann. »Und ich will es auch nicht. Hör auf, mich zu löchern. Du müsstest sie mit eigenen Augen sehen, um es zu verstehen. Man kann das jemandem, der sie nicht selbst gesehen hat, nicht beschreiben.«
Ich sagte nichts mehr und nippte nur an meinem Wodka-Gimlet. Seine Stimme klang ruhig, aber ich konnte heraushören, dass weiteres Bohren zwecklos war.
Danach erzählte er von den zwei Jahren, die er in Brasilien verbracht hatte. »Es ist kaum zu glauben«, sagte er, »aber in Sao Paulo habe ich einen getroffen, mit dem ich in der Mittelstufe war. Er arbeitet dort als Ingenieur bei Toyota.«
Natürlich hörte ich kaum noch zu. Beim Aufbruch klopfte er mir auf die Schulter. »Weißt du«, sagte er, »die Zeit stellt alles Mögliche mit uns Menschen an. Ich weiß ja nicht, was damals zwischen euch gewesen ist, doch was immer es war, du trägst keine Schuld. Jeder macht irgendwann einmal eine solche Erfahrung. Mich eingeschlossen. Ich lüge nicht. Auch ich habe etwas Ähnliches mitgemacht. Es ist nicht zu ändern. Jeder lebt sein eigenes Leben. Du kannst nicht die Verantwortung für andere übernehmen. Wir sind in einer Art Wüste. Wir müssen uns nur damit abfinden. Hast du in der Grundschule den Film Die Wüste lebt von Walt Disney gesehen?«
»Klar«, sagte ich.
»Unsere Welt funktioniert genau wie in dem Film. Wenn es regnet, blühen die Blumen, und wenn es nicht regnet, verdorren sie. Die Insekten werden von den Eidechsen gefressen und die Eidechsen von den Vögeln. Aber letztendlich müssen alle sterben. Und aus dem Tod erwächst das Neue. Eine Generation stirbt, und die nächste tritt an ihre Stelle. Das ist unsere Bestimmung. Jeder lebt auf seine Weise. Und stirbt auf seine Weise. Das ist ganz normal. Das Einzige, was bleibt, ist die Wüste. Das Einzige, was wirklich lebt, ist die Wüste.«
Als er gegangen war, trank ich allein weiter. Die Gäste gingen, die Bar schloss, und die Angestellten räumten auf. Noch immer blieb ich allein dort sitzen. Ich wollte in diesem Zustand nicht nach Hause gehen. Ich rief meine Frau an und sagte ihr, dass ich noch länger in der Bar zu tun hätte. Dann löschte ich die Lichter und trank im Dunkeln meinen Whiskey. Ich trank ihn pur, weil es mir zu viel Mühe war, Eis zu holen.
Ich dachte darüber nach, wie nach und nach alles verschwand. Einiges war ganz plötzlich nicht mehr da, anderes verschwamm mit der Zeit, bis es sich schließlich auflöste. Was blieb, war nur die Wüste.
Als ich kurz vor Tagesanbruch die Bar verließ, fiel leichter Nieselregen auf die Aoyama-dori. Ich war todmüde. Lautlos benetzte der Regen die stummen, wie Grabsteine aufragenden Gebäude. Ich ließ meinen Wagen auf dem Parkplatz hinter der Bar stehen und ging zu Fuß nach Hause. Unterwegs setzte ich mich einen Moment lang auf die Leitplanke und beobachtete eine große Krähe, die krächzend auf einer Ampel saß. Um vier Uhr morgens wirkte die Stadt besonders schäbig und schmutzig. Überall lauerten die Schatten von Verfall und Zersetzung, und ich selbst gehörte dazu. Wie ein in eine Mauer eingebrannter Schatten.
8
Nachdem mein Name und mein Foto in Brutus erschienen waren, tauchten etwa zehn Tage lang hin und wieder Bekannte von früher in der Bar auf, meist ehemalige Mitschüler. Bisher hatte ich mich beim Anblick der endlosen Zeitschriftenstapel vor den Buchläden immer gefragt, wer die bloß alle las. Doch jetzt wurde mir klar, dass sie viel mehr gelesen wurden, als ich es je für möglich gehalten hatte. Überall saßen Leute mit aufgeschlagenen Zeitschriften und lasen wie besessen: beim Friseur, auf Parkbänken, im Café und in der Bahn, an allen möglichen Orten hatten die Leute aufgeschlagene Zeitschriften in der Hand, als wären sie von etwas besessen. Vielleicht hatten sie solche Angst, die Zeit nicht totschlagen zu können, dass sie sich das nächstbeste Blatt griffen und darin lasen.
Ich kann nicht behaupten, dass ich mich sonderlich freute, alte Bekannte wiederzusehen. Nicht dass es mir widerstrebte, sie zu
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