Südlich der Grenze, westlich der Sonne
Kindes, das ich geboren habe«, sagte Shimamoto wie zu sich selbst.
Ich sah sie an, dann blickte ich wieder nach vorn. Die Lastwagen wirbelten den Schneematsch auf, und ich musste immer wieder die Scheibenwischer einschalten.
»Es ist am Tag nach seiner Geburt gestorben. Nur einen Tag hat es gelebt. Ich konnte es nur wenige Male im Arm halten. Es war ein sehr hübsches Baby. So weich … Die Todesursache ist unbekannt. Es konnte nicht richtig atmen. Als es starb, hatte es sich schon verfärbt.«
Ich brachte kein Wort heraus. Ich streckte meine linke Hand aus und legte sie auf ihre.
»Es war ein Mädchen. Es hatte noch keinen Namen.«
»Wann ist es denn gestorben?«
»Genau um diese Zeit vor einem Jahr«, sagte Shimamoto. »Im Februar.«
»Es tut mir so leid«, sagte ich.
»Ich wollte sie nicht einfach begraben. Ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass sie irgendwo in der Dunkelheit liegen würde. Ich wollte sie eine Weile bei mir behalten und dann von einem Fluss ins Meer tragen lassen, damit sie zu Regen wird.«
Danach sagte Shimamoto lange nichts. Ich fuhr schweigend. Bestimmt war ihr nicht nach Reden zumute, und ich wollte sie in Ruhe lassen. Doch irgendwann merkte ich, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Sie atmete sehr merkwürdig, es klang wie eine Art mechanisches Pumpen. Zuerst glaubte ich sogar, es sei etwas mit dem Motor nicht in Ordnung. Aber dann begriff ich, dass das Geräusch vom Sitz neben mir kam. Es war auch kein Schluchzen. Es hörte sich an, als hätte ihre Luftröhre ein Loch, durch das bei jedem Atemzug Luft entwich.
Als ich an einer Ampel halten musste, wandte ich mich ihr zu. Ihr Gesicht war weiß wie Papier und wirkte seltsam erstarrt, als wäre es lackiert. Ihr Kopf war an die Kopfstütze gesunken, und sie starrte nach vorn. Sie rührte sich nicht, blinzelte aber hin und wieder wie unter Zwang. Ich fuhr noch ein Stück, bis ich auf dem Parkplatz einer geschlossenen Bowlinghalle eine geeignete Stelle zum Halten fand. Das Gebäude sah aus wie ein Hangar, und auf dem Dach prangte ein riesiges Schild mit einem Kegel. Die desolate Szenerie gab mir das Gefühl, am Ende der Welt gelandet zu sein. Unser Wagen war der einzige auf dem riesigen Parkplatz.
»Shimamoto«, rief ich. »Shimamoto! Was ist mit dir?«
Sie antwortete nicht. Sie saß nur weiter gegen die Kopfstütze gelehnt da und atmete mit diesem unheimlichen Geräusch. Ich legte meine Hand auf ihre Wange. Sie war eiskalt wie die Landschaft um uns herum. Wie blutleer. Nicht die leiseste Spur von Wärme. Fieber hatte sie jedenfalls nicht. Ich erschrak. Sie würde doch nicht sterben? Ihre Augen waren völlig ausdruckslos. Ich schaute in die blicklosen Pupillen, konnte aber nichts erkennen. Sie waren dunkel und kalt wie der Tod.
»Shimamoto!«, schrie ich. Doch sie zeigte nicht die kleinste Reaktion. Ihre Augen starrten ins Leere. Es war nicht zu erkennen, ob sie bei Bewusstsein war. Ich musste sie in ein Krankenhaus bringen, und zwar schnell. Zwar würden wir dann wohl unseren Flug verpassen, doch dies war nicht der Augenblick, um an so etwas zu denken. Shimamoto war womöglich in Lebensgefahr. Ich konnte auf keinen Fall zulassen, dass sie starb.
Als ich den Motor wieder anließ, merkte ich, dass Shimamoto etwas zu sagen versuchte. Ich stellte den Motor ab und brachte mein Ohr an ihre Lippen, aber ich konnte sie nicht verstehen. Es klang weniger wie ein Wort als wie ein Windhauch, der durch eine Mauerritze zog. Sie nahm all ihre Kraft zusammen und wiederholte es mehrmals. Ich konzentrierte mich mit meinem ganzen Bewusstsein auf sie. Endlich verstand ich das Wort »Medikament«.
»Brauchst du ein Medikament?«, fragte ich.
Shimamoto brachte ein kaum merkliches Nicken zustande. Es schien die einzige Bewegung zu sein, zu der sie in der Lage war. Ich durchsuchte ihre Taschen, die jedoch nur ein Portemonnaie, ein Taschentuch und ein Schlüsselbund enthielten. Kein Medikament. Ich öffnete ihre Schultertasche. In einer Innentasche fand ich eine Schachtel, die vier Kapseln enthielt. Ich zeigte sie ihr. »Ist das das Richtige?«
Sie nickte, ohne die Augen zu bewegen. Ich klappte den Sitz zurück, öffnete ihren Mund und schob eine der Kapseln hinein. Doch ihr Mund war zu trocken, sie würde sie nicht hinunterschlucken können. Ich sah mich nach einem Getränkeautomaten um, aber es gab keinen. Und die Zeit, einen zu suchen, hatte ich nicht. Das einzig Trinkbare in der Nähe war geschmolzener Schnee. Glücklicherweise gab es davon
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