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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Hajime«, sagte Shimamoto, als wir die Aoyama-dori erreichten. »Meinetwegen hätte das Flugzeug nicht starten müssen.«
    Ich hätte gern gesagt, dass ich das Gleiche gedacht hatte, aber ich sagte es nicht. Mein Mund war wie ausgedörrt, und ich brachte kein Wort heraus. Ich nickte schweigend und drückte nur sanft ihre Hand. An einer Ecke in Aoyama-itchome bat sie mich, anzuhalten, und ich setzte sie dort ab.
    »Darf ich wieder in die Bar kommen?«, fragte sie beim Aussteigen leise. »Oder hast du genug von mir?«
    »Ich warte auf dich«, sagte ich. »Wir sehen uns bald.«
    Shimamoto nickte.
    Während ich die Aoyama-dori entlangfuhr, dachte ich, dass ich wahnsinnig werden würde, wenn ich sie nicht wiedersah. Kaum war sie ausgestiegen, war meine Welt öde und leer geworden.

11
    Vier Tage nachdem ich mit Shimamoto in Ishikawa gewesen war, erhielt ich einen Anruf meines Schwiegervaters. Er habe etwas Dringendes mit mir zu besprechen, sagte er und lud mich für den nächsten Tag zum Mittagessen ein. Ich sagte zu, war aber ehrlich gesagt ein wenig erstaunt. Mein Schwiegervater war ein viel beschäftigter Mann, und es war eine große Ausnahme, dass er mit jemandem essen ging, der nichts mit seiner Arbeit zu tun hatte.
    Seine Firma war etwa ein halbes Jahr zuvor von Yoyogi in ein neues sechsstöckiges Firmengebäude in Yotsuya gezogen. Allerdings benutzte er für seine Firma nur den fünften und sechsten Stock, die übrigen Etagen hatte er an andere Unternehmen, Restaurants und Läden vermietet. Ich besuchte das Gebäude zum ersten Mal. Alles war nagelneu und blitzblank. Das Foyer hatte einen Marmorboden, eine hohe Decke und eine Keramikvase, in der ein gewaltiger Blumenstrauß prangte. Ich fuhr mit dem Aufzug in den fünften Stock. Am Empfang saß eine junge Frau, die mit ihrer prächtigen Mähne einer Shampoo-Reklame entsprungen zu sein schien. Sie meldete mich telefonisch bei meinem Schwiegervater an. Die dunkelgraue Telefonanlage hatte Ähnlichkeit mit einem Eierwender, an dem eine Rechenmaschine befestigt war.
    »Bitte, der Herr Direktor erwartet Sie in seinem Büro«, sagte sie und lächelte. Sie hatte ein ausgesprochen liebenswürdiges Lächeln, aber mit dem von Shimamoto war es nicht zu vergleichen.
    Das Direktionszimmer befand sich in der obersten Etage. Die großen Panoramafenster gewährten einen Ausblick über die Stadt. Es war vielleicht nicht gerade eine herzerwärmende Aussicht, aber der Raum war sonnig und hell. An der Wand hing ein impressionistisches Gemälde mit einem Leuchtturm und einem Boot. Es sah aus wie ein Seurat, vielleicht war es sogar ein Original.
    »Die Geschäfte gehen offenbar gut«, sagte ich zu meinem Schwiegervater.
    »Nicht schlecht jedenfalls«, antwortete er. Er trat ans Fenster und deutete nach draußen. »Gar nicht schlecht. Und es wird immer besser. Jetzt ist die Zeit, um Geld zu verdienen. Eine solche Gelegenheit bietet sich in meiner Branche nur alle zwanzig oder dreißig Jahre. Wer jetzt nicht reich wird, schafft es nie. Und weißt du auch, warum?«
    »Nein, keine Ahnung. Was die Baubranche angeht, bin ich blutiger Laie.«
    »Komm her, schau dir mal Tokio von hier oben an. Siehst du die ganzen unbebauten Grundstücke? Wie Zahnlücken. Das erkennt man nur von oben. Aber wer unten herumläuft, merkt nichts davon. Dort standen überall alte Häuser und Bürogebäude, die abgerissen wurden. Die Grundstückspreise sind derart in die Höhe geschossen, dass es sich nicht mehr lohnt, die alten Kisten zu erhalten. Für diese Bruchbuden kann man keine hohe Miete verlangen, außerdem ist die Zahl der Mieter zu gering. Deshalb müssen dort neue und größere Gebäude hin. Die Grund- und Erbschaftssteuern für Privathäuser mitten in der Stadt sind so gestiegen, dass kaum jemand sie bezahlen kann. Also verkaufen die Leute. Sie trennen sich von ihren Stadthäusern und ziehen in die Vororte. Ihre Häuser werden in der Regel von professionellen Immobilienmaklern aufgekauft. Die reißen sie ab und stellen dort neue, funktionalere Gebäude hin. Jedenfalls werden all die Grundstücke, die du von hier oben siehst, in den nächsten zwei oder drei Jahren neu bebaut sein. Tokio wird sein Gesicht völlig verändern. Kapital ist kein Problem. Die japanische Wirtschaft boomt, und die Aktienkurse steigen unaufhaltsam. Die Banken schwimmen im Geld. Wer Grund und Boden hat, bekommt Kredit, soviel und so hoch er will. Deshalb wird da draußen ein Hochhaus nach dem anderen aus dem Boden gestampft. Und

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