Südlich der Grenze, westlich der Sonne
hatte Frau und Kinder und einen Beruf. Um hierherzukommen, hatte ich meine Frau anlügen müssen. Ich musste zurück zum Flughafen und in ein Flugzeug steigen, das um 18.30 Uhr in Tokio landen würde, dann musste ich schnellstens nach Hause, wo meine Frau auf mich wartete.
Bald blieb Shimamoto stehen. Sie rieb ihre behandschuhten Hände aneinander und schaute sich langsam um. Sie blickte flussaufwärts, dann flussabwärts. Am gegenüberliegenden Ufer erstreckte sich eine Bergkette, links lag ein kahles Wäldchen. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Auch das Gasthaus, in dem wir gegessen hatten, und die Metallbrücke waren hinter den Hügeln verborgen. Hin und wieder schaute die Sonne hinter den dichten Wolken hervor. Außer dem Geschrei der Krähen und dem Rauschen des Flusses war nichts zu hören. Plötzlich dachte ich, dass es mir bestimmt sei, diese Szenerie eines Tages wiederzusehen. Es war sozusagen ein umgekehrtes Déjà-vu. Ich hatte nicht das Gefühl, die Landschaft schon gesehen zu haben, sondern die Vorahnung, dass ich sie irgendwann irgendwo wiedersehen würde. Dieses Vorgefühl streckte seinen langen Arm nach mir aus und packte mein Bewusstsein an seiner Wurzel. Ich konnte seinen Griff spüren. Doch in seiner Hand lag mein zukünftiges, älteres Ich. Wie es aussah, konnte ich natürlich nicht erkennen.
»Hier ist es gut«, sagte Shimamoto.
»Was willst du machen?«, fragte ich.
Das vertraute Lächeln trat auf ihre Züge, und sie sah mich an. »Ich werde meinen Plan ausführen«, sagte sie.
Wir stiegen hinunter bis an den Rand des Wassers. An der Stelle bildete es eine kleine Bucht, die von dünnem Eis bedeckt war. Auf ihrem Grund lagen reglos wie flache, tote Fische ein paar Blätter. Ich hob einen runden Stein auf, der am Ufer lag, und rollte ihn in meiner Hand. Shimamoto zog ihre Handschuhe aus und steckte sie in die Manteltasche. Dann öffnete sie ihre Schultertasche und nahm etwas heraus, das in ein festes, schönes Tuch gewickelt war. Es war eine kleine Urne. Sie löste die Schnur, öffnete vorsichtig den Deckel und schaute eine Weile hinein.
Ich sah ihr zu, ohne etwas zu sagen.
Die Urne enthielt weiße Asche. Vorsichtig, um nichts zu verschütten, gab Shimamoto die Asche in ihre linke Hand, die gerade groß genug für die Menge war. Vermutlich stammte die Asche von einer Verbrennung. Da es ein ruhiger, windstiller Nachmittag war, blieb sie auf ihrem Handteller liegen. Shimamoto verstaute die leere Urne wieder in ihrer Tasche. Dann tauchte sie ihren Zeigefinger in die Asche und leckte ihn ab. Sie sah mich an und versuchte zu lächeln. Aber es wollte ihr nicht gelingen. Ihr Finger lag noch auf ihren Lippen.
Sie ging in die Hocke und streute die Asche in den Fluss. Ich stand neben ihr und sah ihr zu. Die Asche wurde sofort von der Strömung davongetragen. Unsere Blicke folgten dem Lauf des Wassers. Shimamoto starrte einen Moment auf ihre Hand, wischte die verbliebene Asche ins Wasser und zog ihre Handschuhe wieder an.
»Meinst du, sie gelangt wirklich ins Meer?«, fragte sie.
»Ich glaube schon«, sagte ich. Allerdings war ich nicht ganz überzeugt. Es war noch ziemlich weit bis dorthin. Vielleicht würde sie an einer ruhigen Stelle auf den Grund sinken und dort bleiben. Aber ein Teil der Asche würde ganz sicher ins Meer gespült werden.
Shimamoto machte sich daran, mithilfe eines Stocks, den sie vom Ufer aufgehoben hatte, das weiche Erdreich aufzugraben. Ich half ihr dabei. Als wir ein kleines Loch gegraben hatten, senkte sie die in das Tuch gewickelte Urne hinein. Irgendwo krächzten wieder die Krähen. Wahrscheinlich hatten sie uns von Anfang bis Ende beobachtet. Sollten sie doch. Wir taten ja nichts Schlechtes. Wir hatten nur ein wenig Asche in den Fluss gestreut.
»Ob sie als Regen wieder zur Erde fällt?«, fragte Shimamoto, während sie mit der Stiefelspitze den Boden glättete.
Ich sah zum Himmel. »Wie meinst du das?«, fragte ich.
»Ich meine, ob die Asche des Kindes vielleicht ins Meer gespült wird, sich mit dem Wasser vermischt, das zu Wolken verdunstet und dann als Regen zur Erde fällt.«
Ich sah noch einmal zum Himmel. Und dann in die Strömung.
»Das wäre möglich«, sagte ich.
Wir fuhren in unserem Mietwagen zum Flughafen. Das Wetter schlug plötzlich um. Der Himmel war nun von dichten Wolken bedeckt, und kein Fleckchen Blau war mehr zu sehen. Es sah aus, als könnte es jeden Moment zu schneien anfangen.
»Das war die Asche meines Kindes. Des einzigen
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