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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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genügend. Ich stieg aus und sammelte unter dem Vordach des Gebäudes etwas harten, einigermaßen sauberen Schnee, den ich in Shimamotos Wollmütze füllte. Nach und nach steckte ich mir etwas davon in den Mund, um ihn zu schmelzen. Es dauerte eine Weile, und meine Zungenspitze wurde dabei ganz gefühllos, aber eine bessere Methode fiel mir nicht ein. Nun öffnete ich Shimamotos Mund und ließ das Wasser hineinfließen. Dann hielt ich ihr die Nase zu und zwang sie zu schlucken. Sie verschluckte sich dabei mehrmals, doch schließlich gelang es ihr, die Kapsel einzunehmen.
    Ich schaute mir die Schachtel an, aber es stand nichts darauf. Weder der Name des Medikaments noch ihr Name noch ein Hinweis auf die Dosierung. Sehr merkwürdig, dachte ich. Normalerweise standen solche Informationen immer auf Medikamenten. Damit man sie nicht falsch dosiert oder damit andere wissen, wie man sie einzunehmen hat. Ich schob die Schachtel wieder in Shimamotos Tasche zurück und beobachtete eine Weile ihren Zustand. Ich wusste ja nicht, um was für ein Medikament es sich handelte und welche Symptome sie hatte. Aber da sie es offenbar immer bei sich trug, würde es sicher helfen. Zumindest war dieser Anfall für Shimamoto nicht völlig unvorhersehbar gewesen.
    Nach etwa zehn Minuten kehrte endlich etwas Farbe in ihr Gesicht zurück. Sacht legte ich meine Wange an ihre. Wenn auch nicht viel, so schien sie doch etwas von ihrer Wärme zurückzuerlangen. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ ich mich in den Sitz zurückfallen. Shimamoto würde nicht sterben. Ich legte den Arm um ihre Schulter und rieb meine Wange an ihrer. Langsam kehrte sie ins Reich der Lebenden zurück.
    »Hajime«, sagte sie endlich mit leiser, heiserer Stimme.
    »Sollten wir nicht lieber in ein Krankenhaus fahren? Zumindest in eine Notaufnahme«, fragte ich.
    »Nicht nötig«, sagte Shimamoto. »Es geht schon wieder. Wenn ich das Medikament nehme, geht es vorüber. Mach dir keine Gedanken, bald ist alles wieder normal. Die Hauptsache ist, dass wir unseren Flug erreichen. Wenn wir nicht sofort zum Flughafen fahren, schaffen wir es nicht.«
    »Mach dir deshalb keine Sorgen. Wir bleiben hier, bis es dir besser geht«, sagte ich.
    Ich wischte ihr mit meinem Taschentuch den Mund ab. Shimamoto nahm es mir aus der Hand und sah es an. »Bist du zu allen so nett?«
    »Nein, nicht zu allen«, sagte ich. »Aber zu dir. Ich kann nicht zu allen nett sein. Dazu sind meine Möglichkeiten zu begrenzt. Auch was dich angeht, sind sie begrenzt. Andernfalls würde ich gern viel mehr für dich tun. Leider geht das nicht.«
    Shimamoto wandte sich mir zu und sah mich an. »Hajime, bitte glaub nicht, ich hätte das absichtlich getan, damit wir den Flug verpassen«, sagte sie leise.
    Erstaunt sah ich sie an. »Natürlich nicht. Das weiß ich auch ohne dass du es mir sagst. Es ging dir schlecht. Dafür konntest du doch nichts.«
    »Entschuldige«, sagte Shimamoto.
    »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Dir war schlecht.«
    »Aber ich bin ein Klotz an deinem Bein.«
    Ich strich über ihr Haar, beugte mich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Wange. Am liebsten hätte ich ihren ganzen Körper an mich gedrückt und seine Wärme auf meiner Haut gespürt. Aber das konnte ich nicht tun. Nur einen Kuss auf die Wange durfte ich ihr geben. Ihre Wange war warm, weich und feucht. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Es wird alles gut«, sagte ich.
    Bis wir am Flughafen angekommen waren und den Mietwagen zurückgegeben hatten, war die Boarding-Zeit längst überschritten, doch glücklicherweise hatte die Maschine Verspätung. Zu unserer großen Erleichterung stand sie auf der Rollbahn, und die Passagiere waren noch nicht an Bord. Allerdings würden wir noch über eine Stunde lang warten müssen. Wegen Wartungsarbeiten, wie uns die Angestellte am Schalter mitteilte. Mehr Informationen habe sie auch nicht. Wann die Arbeiten abgeschlossen seien, wisse sie nicht. Bei unserer Ankunft am Flughafen hatte bereits leichter Schneefall eingesetzt, inzwischen schneite es heftig. Es war nicht ausgeschlossen, dass der Flug ganz ausfallen würde.
    »Was machst du, wenn du heute nicht mehr nach Tokio zurückkommst, Hajime?«, fragte Shimamoto.
    »Keine Sorge, wir fliegen bestimmt«, sagte ich. Aber natürlich gab es keine Gewissheit. Die Vorstellung bedrückte mich. Ich musste mir für den Notfall eine Ausrede überlegen, warum ich auf einmal in Ishikawa festsaß. Aber daran war jetzt nichts zu ändern.

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