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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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wirkte er ziemlich betrunken. Aber ich hielt den Mund und hörte zu.
    »Wahrscheinlich weißt du es nicht, aber Yukiko hat einmal versucht, sich umzubringen. Mit Schlaftabletten. Wir haben sie ins Krankenhaus gebracht, sie war zwei Tage lang bewusstlos. Ich dachte, sie würde nie mehr aufwachen. Sie war eiskalt und atmete kaum noch. Ich war sicher, sie würde sterben. Ich sah nur noch schwarz.«
    Ich sah ihn an. »Wann war das?«
    »Als sie zweiundzwanzig war. Sie hatte gerade ihr Examen gemacht. Es war wegen irgendeines Dreckskerls, mit dem sie sich sogar verlobt hatte. Yukiko wirkt vielleicht sehr fügsam, aber sie hat einen starken Willen. Und sie ist intelligent. Deshalb verstehe ich auch bis heute nicht, warum sie sich mit so einem Kerl eingelassen hat.« Mein Schwiegervater lehnte sich gegen den Balken der Schmucknische des traditionell japanischen Raums und steckte sich eine Zigarette an. »Er war Yukikos erster Mann. Beim ersten Mal kann sich jeder irren. Aber für Yukiko war der Schock so groß, dass sie sich das Leben nehmen wollte. Auch danach ging sie Männern noch lange aus dem Weg. Bis dahin war sie ein unternehmungslustiges Mädchen gewesen, aber nach diesem Vorfall zog sie sich völlig zurück. Sie war still und blieb immer zu Hause. Erst als sie dich kennenlernte, wurde sie wieder fröhlich. Sie war wie ausgewechselt. Ihr habt euch doch auf einer Reise kennengelernt?«
    »Ja, in Yatsugatake.«
    »Ich musste sie damals fast mit Gewalt dazu zwingen. Ja, so eine Reise kann Wunder wirken.«
    Ich nickte. »Von dem Selbstmordversuch habe ich nichts gewusst«, sagte ich.
    »Ich hielt es für besser so. Deshalb habe ich bis jetzt nichts gesagt. Doch inzwischen meine ich, du solltest es wissen. Ihr beide werdet noch lange zusammen sein, und da sollte man alles voneinander wissen, das Gute und auch das Schlechte. Außerdem ist das ja schon eine alte Geschichte.« Mein Schwiegervater schloss die Augen und stieß eine Rauchwolke aus. »Es klingt vielleicht komisch, wenn ich das sage, aber Yukiko ist eine gute Frau. Davon bin ich überzeugt. Ich habe viele Frauen gekannt und weiß, ob eine was taugt. Auch wenn sie meine Tochter ist, kann ich das sehr wohl beurteilen. Meine jüngere Tochter ist hübsch anzuschauen, aber als Mensch ist sie ganz anders. Und du bist ein guter Menschenkenner.«
    Ich schwieg.
    »Du hast ja keine Geschwister.«
    »Nein«, sagte ich.
    »Ich habe drei Kinder. Glaubst du, dass ich sie alle drei gleich gern habe?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Wie ist es bei dir? Hast du deine beiden Töchter gleich gern?«
    »Ich glaube schon.«
    »Das liegt daran, dass sie noch so klein sind«, sagte mein Schwiegervater. »Wenn sie größer werden, wirst du ganz von selbst eine Vorliebe für die eine oder die andere entwickeln. Wenn es so weit ist, wirst du mich verstehen.«
    »Ist das wirklich so?«, sagte ich.
    »Dir kann ich es ja sagen: Von meinen drei Kindern ist mir Yukiko die Liebste. Das ist den anderen gegenüber nicht gerecht, aber so ist es nun mal. Mit Yukiko verstehe ich mich am besten, und sie hat mein ganzes Vertrauen.«
    Ich nickte.
    »Du besitzt Menschenkenntnis; das ist eine wertvolle Gabe, die man nicht hoch genug schätzen kann. Ich selbst bin ein Dummkopf, aber immerhin habe ich nicht nur Dummköpfe hervorgebracht.«
    Ich verfrachtete meinen mittlerweile stockbetrunkenen Schwiegervater in seinen Mercedes. Er lümmelte sich breitbeinig auf die Rückbank und schloss die Augen. Ich winkte mir ein Taxi und fuhr nach Hause. Als ich dort ankam, wollte Yukiko gleich hören, worüber ihr Vater und ich gesprochen hatten.
    »Nichts Besonderes«, sagte ich. »Dein Vater brauchte nur mal wieder einen Trinkkumpan. Am Ende hatte er ziemlich getankt. Dass er in dem Zustand noch arbeiten kann!«
    »Das macht er doch immer.« Yukiko lachte. »Er trinkt sich zum Mittagessen einen an und legt sich dann auf seinem Chefsofa ein Stündchen aufs Ohr. Bis jetzt ist die Firma davon noch nicht bankrott gegangen. Lass ihn nur.«
    »Mir kommt es aber vor, als würde er nicht mehr so viel vertragen.«
    »Kann sein. Bis meine Mutter gestorben ist, konnte er so viel trinken, wie er wollte, ohne dass man es ihm angemerkt hätte. Früher war er unglaublich robust. Aber schließlich werden wir alle älter, dagegen kann man nichts machen.«
    Sie kochte frischen Kaffee, und wir tranken ihn am Küchentisch. Ich hatte beschlossen, Yukiko nichts von der Scheinfirma zu erzählen, die ihr Vater unter meinem Namen gründen

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