Südlich der Grenze, westlich der Sonne
so fein, dass ich ihn kaum bemerkte, trennte mich von der Darbietung, und sosehr ich mich auch bemühte, ich schaffte es nicht, auf die andere Seite zu gelangen. Nach dem Konzert erzählte ich Shimamoto davon, und es stellte sich heraus, dass sie genauso empfunden hatte.
»Aber glaubst du, dass es an der Darbietung lag?«, fragte sie. »Ich fand sie sehr gut.«
»Weißt du noch? Auf der Platte, die wir immer hörten, war am Ende vom zweiten Satz ein Kratzer zu hören«, sagte ich. »Und ohne den kann ich die Musik nicht genießen.«
Shimamoto lachte. »Also, weißt du! Das würde ich nicht gerade als Kunstverstand bezeichnen.«
»Mit Kunst hat das auch nichts zu tun. Die kann von mir aus der Kahlkopfgeier fressen. Sag, was du willst, ich liebe diesen Kratzer.«
»Vielleicht hast du recht«, gab Shimamoto zu. »Aber was in aller Welt ist ein Kahlkopfgeier? Ich kenne Geier, aber Kahlkopfgeier?«
Auf der Rückfahrt in der Bahn erzählte ich ihr ausführlich, was ein Kahlkopfgeier war. Wo er lebte, wie sein Ruf klang, wann seine Paarungszeit war. »Außerdem ernährt sich der Kahlkopfgeier von Kunst. Der gemeine Geier ernährt sich von den Leichen namenloser Menschen. Sie sind völlig verschieden.«
»Du bist ein seltsamer Mensch.« Sie lachte und lehnte sich dort auf der Sitzbank in der Bahn mit ihrer Schulter ganz leicht gegen meine. Es war das einzige Mal in den vergangenen zwei Monaten, dass unsere Körper sich berührt hatten.
So verging der März, und es wurde April. Meine jüngere Tochter ging nun in denselben Kindergarten wie die ältere. Yukiko hatte jetzt mehr Zeit und arbeitete ehrenamtlich in einer Einrichtung für behinderte Kinder. Meistens brachte ich die Mädchen in den Kindergarten und holte sie auch wieder ab. Hatte ich keine Zeit, übernahm meine Frau diese Aufgabe. Daran, dass meine Töchter allmählich größer wurden, merkte ich, dass auch ich älter wurde. Sie wuchsen wie von selbst, ungeachtet meiner Pläne und Erwartungen. Natürlich liebte ich sie. Sie heranwachsen zu sehen, war mein größtes Glück. Dennoch deprimierte es mich manchmal fürchterlich, wenn ich sah, wie sie jeden Monat größer wurden. Es war, als wachse aus meinem Körper ein Baum, der Wurzeln zog und seine Äste ausbreitete. Sich gewaltsam ausdehnte und meine Organe, meine Muskeln, meine Knochen und meine Haut verdrängte. Diese Vorstellung wurde manchmal so beängstigend und erstickend, dass ich nachts nicht schlafen konnte.
Einmal in der Woche traf ich mich mit Shimamoto. Jeden Tag chauffierte ich meine Töchter zwischen unserer Wohnung und dem Kindergarten hin und her, und mehrmals in der Woche schlief ich mit meiner Frau. Seit ich Shimamoto regelmäßig sah, schlief ich wieder öfter mit Yukiko. Jedoch nicht aus schlechtem Gewissen. Yukiko zu umarmen und von ihr umarmt zu werden, war das Einzige, was mir Halt gab.
»Was ist eigentlich los mit dir? Du bist so sonderbar in letzter Zeit«, fragte mich Yukiko eines Nachmittags, nachdem wir miteinander geschlafen hatten. »Ich habe noch nie gehört, dass sich der Sexualtrieb bei Männern um die siebenunddreißig plötzlich steigert.«
»Gar nichts ist los, alles wie immer«, sagte ich.
Yukiko musterte mich kurz und schüttelte leicht den Kopf. »Ach komm«, sagte sie. »Ich würde wirklich gern wissen, was in dir vorgeht.«
Wenn ich nichts zu tun hatte, hörte ich klassische Musik und starrte unverwandt auf den Aoyama-Friedhof hinaus. Ich las nicht mehr so viel früher. Es fiel mir immer schwerer, mich auf ein Buch zu konzentrieren.
Ab und zu unterhielt ich mich mit der jungen Frau in dem Mercedes 260 E , während wir darauf warteten, dass unsere Töchter aus dem Kindergarten kamen. Im Allgemeinen über Dinge, die nur Leute interessierten, die in Aoyama wohnten. Welcher Supermarkt-Parkplatz um welche Zeit vergleichsweise leer war, in welchem italienischen Restaurant die Küche schlechter geworden war, weil der Koch gewechselt hatte, oder dass es bei Meijiya nächste Woche Importweine im Sonderangebot gab. Meine Güte, dachte ich, jetzt stehe ich schon rum und tratsche wie eine Hausfrau. Aber diese Dinge waren nun einmal unsere einzigen gemeinsamen Gesprächsthemen.
Mitte April verschwand Shimamoto wieder. Beim letzten Mal, als wir uns sahen, hatten wir zusammen im Robin’s Nest an der Bar gesessen und geredet. Kurz vor zehn bekam ich einen Anruf aus meinem anderen Lokal und musste dringend dorthin. »In dreißig oder vierzig Minuten bin ich wieder zurück«,
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