Südlich der Grenze, westlich der Sonne
nicht von dem Foto losreißen.
»Warum betrachtest du es denn so eingehend?«, fragte Shimamoto.
»Um die Zeit einzuholen«, sagte ich. »Ich habe dich fünfundzwanzig Jahre lang nicht gesehen. Und diese Lücke möchte ich zumindest ein bisschen füllen.«
Sie sah mich verwundert an, als wäre mit meinem Gesicht etwas nicht in Ordnung. »Merkwürdig. Du möchtest die Lücke füllen, und ich möchte, dass sie erhalten bleibt.«
In der ganzen späteren Schulzeit hatte Shimamoto nie einen Freund. Sie war ein hübsches Mädchen, und so blieb es nicht aus, dass sie von Jungen angesprochen wurde. Aber sie traf sich so gut wie nie mit einem von ihnen. Manchmal ging sie mit einem aus, aber nie lange.
»Ich konnte Jungen in dem Alter nicht ausstehen. Weißt du, was ich meine? Sie sind grob und egoistisch und haben nichts anderes im Kopf, als einem Mädchen unter den Rock zu fassen. Mehr ist da nicht. Ich wurde jedes Mal enttäuscht. Ich wünschte mir das, was ich mit dir erlebt hatte.«
»Weißt du, Shimamoto, mit sechzehn war ich auch einer dieser egoistischen Grobiane und dachte an nichts anderes, als den Mädchen unter die Röcke zu greifen. Genau so war ich.«
»Dann war es ja gut, dass wir diese Zeit getrennt verbracht haben«, sagte Shimamoto und lächelte. »Mit zwölf auseinanderzugehen und sich mit siebenunddreißig wieder zu begegnen … vielleicht war das das Beste für uns.«
»Das bezweifle ich.«
»Aber inzwischen kannst du doch ab und zu an etwas anderes denken, als deine Hand unter einen Rock zu stecken?«
»Ja, ab und zu schon«, sagte ich. »Aber wenn dich das beunruhigt, solltest du nächstes Mal lieber Hosen tragen.«
Lachend legte Shimamoto ihre Hände auf den Tisch und betrachtete sie. Auch diesmal trug sie keinen Ring. Sie trug oft Armbänder und jedes Mal eine andere Uhr. Und Ohrringe. Aber nie einen Ring.
»Mir graute davor, einem Jungen ein Klotz am Bein zu sein«, sagte sie. »Du weißt, was ich meine. Es gab so viele Dinge, die ich nicht tun konnte. Picknicken, Schwimmen, Skifahren, Eislaufen, tanzen, all das kam für mich nicht infrage. Selbst Spazierengehen konnte ich nur ganz langsam. Alles, was man mit mir anfangen konnte, war sitzen, reden und Musik hören. Das hält ein normaler Junge in dem Alter nicht lange aus. Ich verabscheute es, anderen zur Last zu fallen.«
Sie trank von ihrem Perrier mit Zitrone. Es war ein warmer Nachmittag Mitte März. Auf der Omote-sando sah man schon viele junge Leute in kurzen Ärmeln.
»Selbst für dich wäre ich am Ende bestimmt eine Last geworden. Du hättest mich sattbekommen. Du hättest dir ganz sicher gewünscht, aktiver zu sein und hinaus in die große weite Welt zu gehen. Das hätte ich nicht ertragen.«
»Nein, Shimamoto«, sagte ich. »Das ist ausgeschlossen. Ich hätte dich nie sattbekommen. Uns verband immer etwas ganz Besonderes. Das weiß ich genau. Ich kann es nicht in Worte fassen. Doch es ist etwas sehr Entscheidendes, Kostbares. Das weißt du genauso gut wie ich.«
Shimamoto sah mich an, ohne dass ihr Ausdruck sich änderte.
»Ich bin kein außergewöhnlicher Mensch«, fuhr ich fort. »Es gibt nicht viel, worauf ich mir etwas einbilden könnte. Außerdem war ich früher noch gefühlloser und arroganter als jetzt. Deshalb hätte ich wahrscheinlich gar nicht zu dir gepasst. Aber eins kann ich mit Bestimmtheit sagen: Sattbekommen hätte ich dich niemals. In diesem Punkt bin ich anders als die, die du kanntest. Was dich betrifft, bin ich ein besonderer Fall. Das spüre ich.«
Wieder betrachtete Shimamoto ihre auf dem Tisch liegenden Hände. Sie spreizte die Finger ein wenig, wie um sich ihrer Anzahl zu vergewissern.
»Hajime«, sagte sie. »Leider sind bestimmte Dinge nicht rückgängig zu machen. Sind sie einmal geschehen, kann man sich noch so sehr anstrengen, und sie werden doch nie wieder so, wie sie einmal waren. Wenn auch nur das Geringste schiefläuft, erstarrt alles und bleibt für immer so.«
Einmal besuchten wir zusammen ein Liszt-Konzert. Das war Shimamotos Vorschlag gewesen. Ein berühmter Pianist aus Südamerika trat auf. Ich nahm mir den Abend frei, und wir gingen zusammen in die Konzerthalle im Ueno-Park. Es war ein wundervolles Konzert. Der Pianist spielte virtuos, die Musik selbst war von erlesener Tiefe, und man spürte die inbrünstige Hingabe des Künstlers. Aber obwohl ich die Augen schloss und mich konzentrierte, wollte es mir einfach nicht gelingen, mich ganz in die Musik zu versenken. Ein zarter Vorhang,
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