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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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unentwegt. Aber ich legte ihr nie den Arm um die Schulter, und sie nahm auch nie mehr meine Hand. Wir berührten einander überhaupt nicht.
    Auf den Straßen von Tokio hatte Shimamoto wieder zu ihrem kühlen, zauberhaften Lächeln zurückgefunden. Zu heftigen Gemütsbewegungen, wie damals an jenem kalten Tag im Februar in Ishikawa, kam es nicht mehr. Auch die Wärme und die natürliche Vertrautheit, die damals zwischen uns entstanden waren, kehrten nicht zurück. In schweigendem Einverständnis erwähnten wir mit keinem Wort mehr, was sich auf unserer seltsamen kleinen Reise zugetragen hatte.
    Wenn ich neben ihr ging, fragte ich mich oft, welche Gedanken sie in ihrem Herzen hegen mochte. Und wohin sie sie führen würden. Hin und wieder schaute ich ihr in die Augen. Doch ich sah nichts als heitere Stille. Die Linie über ihren Lidern ließ mich wieder an einen fernen Horizont denken. Inzwischen glaubte ich zu verstehen, weshalb Izumi sich damals in unserer Schulzeit so einsam mit mir gefühlt hatte. Auch Shimamoto besaß eine innere kleine Welt, die nur ihr gehörte. Eine Welt, die nur sie kannte und zu der nur sie allein Zutritt hatte. Auch ich konnte nicht hinein. Nur ein einziges Mal hatte sich die Tür zu dieser Welt einen Spaltbreit geöffnet. Doch nun war sie verschlossen.
    Bald wusste ich nicht mehr, was richtig und was falsch war. Ich fühlte mich wieder genauso ohnmächtig und ratlos wie als Zwölfjähriger. Wenn ich vor Shimamoto stand, wusste ich nie, was ich tun oder sagen sollte. Ich bemühte mich, einen kühlen Kopf zu bewahren. Nachzudenken. Aber es wollte mir einfach nicht gelingen. Immerzu hatte ich das Gefühl, alles falsch zu machen. Doch was ich auch tat oder sagte, jede Emotion wurde von Shimamotos zauberhaftem Lächeln aufgesogen. »Keine Sorge, es ist alles gut«, schien es zu sagen.
    Ich wusste nichts über Shimamotos Leben. Nicht einmal, wo sie wohnte. Oder ob sie mit jemandem zusammenlebte. Ob sie verheiratet war oder verheiratet gewesen war. Ich wusste nur, dass sie im Februar vergangenen Jahres ein Kind bekommen hatte, das bereits am Tag darauf gestorben war. Und dass sie noch nie gearbeitet hatte. Dennoch trug sie immer teure Kleidung und Accessoires. Das musste bedeuten, dass sie über beträchtliche Einkünfte verfügte. Mehr wusste ich nicht. Vielleicht war sie verheiratet gewesen, als sie das Kind bekommen hatte. Doch auch das war nicht mehr als eine Vermutung. Es war schließlich nicht ausgeschlossen, ein Kind zu bekommen, ohne verheiratet zu sein.
    Dennoch erzählte mir Shimamoto bei unseren Treffen nach und nach von ihrer Schulzeit. Wahrscheinlich fand sie es statthaft, darüber zu sprechen, da diese nicht unmittelbar etwas mit der Gegenwart zu tun hatte. Ich erfuhr, wie einsam sie in dieser Zeit gewesen war. Sie hatte versucht, sich gegenüber ihren Mitmenschen möglichst aufrichtig zu verhalten. Keine Ausflüchte zu suchen. »Wenn man einmal damit anfängt, macht man immer weiter. So wollte ich nicht leben.« Aber das funktionierte nicht. Es kam zu vielen unglücklichen Missverständnissen, die sie zutiefst verletzten. Shimamoto kapselte sich immer mehr ab. Morgens musste sie sich übergeben, so zuwider war es ihr, zur Schule zu gehen.
    Einmal zeigte sie mir ein Foto aus der Zeit, als sie auf die Oberschule gekommen war. Sie saß in einem Liegestuhl in einem Garten voller blühender Sonnenblumen. Es war Sommer. Sie trug kurze Jeans und ein weißes T-Shirt. Sie sah wunderschön aus. Sie schaute in die Kamera und lächelte. Verglichen mit heute wirkte ihr Lächeln etwas befangen, aber es war dadurch nicht weniger reizend. Eigentlich ging es dem Betrachter gerade durch diese Unsicherheit zu Herzen. Keinesfalls wirkte es wie das Lächeln eines einsamen jungen Mädchens, das seine Tage im Unglück verbringt.
    »Auf diesem Foto siehst du aus wie das Glück in Person«, sagte ich.
    Shimamoto schüttelte langsam den Kopf. Zauberhafte Fältchen erschienen in ihren Augenwinkeln. Sie schien an Ereignisse in ferner Vergangenheit zu denken. »Weißt du, Hajime, auf Fotos kann man gar nichts erkennen. Sie geben nur Schatten wieder. Mein wirkliches Ich ist ganz woanders. Auf dem Foto ist es nicht zu sehen.«
    Der Anblick des Fotos schnitt mir ins Herz, denn er brachte mir zu Bewusstsein, wie viel Zeit ich verloren hatte. Kostbare Zeit, die ich nie wieder einholen konnte, so verzweifelt ich mich auch bemühen würde. Zeit, die nur in jenem einen Moment existiert hatte. Lange konnte ich mich

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