Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
gestrichen und lächelnd den Kopf zur Seite geneigt hatte. Bald wurde ich es leid, allein herumzusitzen, und ich beschloss, einen Spaziergang nach Shibuya zu unternehmen. Es hatte mir immer gefallen, durch die Straßen zu schlendern, die Gebäude und die Geschäfte anzusehen und Menschen zu beobachten. Allein das Gefühl, mich auf meinen eigenen zwei Beinen durch die Stadt zu bewegen, gefiel mir. Doch nun erschien mir alles deprimierend und hohl. Die Gebäude zerfielen, die Bäume der Alleen hatten ihre Farben und die Menschen ihre Gefühle und Träume verloren.
    Ich suchte mir ein wenig besuchtes Kino und starrte auf die Leinwand. Als der Film zu Ende war, ging ich durch die abendlichen Straßen und setzte mich in irgendein Restaurant, um eine Kleinigkeit zu essen. Am Bahnhof Shibuya wimmelte es von Angestellten auf dem Heimweg. Wie im Zeitraffer kam eine Bahn nach der anderen und nahm die Menschenmassen von den Bahnsteigen in sich auf. Mir fiel ein, dass ich hier vor fast zehn Jahren Shimamoto entdeckt hatte. Damals war ich achtundzwanzig und noch unverheiratet gewesen. Und Shimamoto hatte noch gehinkt. Sie hatte einen roten Mantel und eine große Sonnenbrille getragen. Von hier aus war sie nach Aoyama gegangen. All das schien so weit zurückzuliegen.
    Nacheinander rief ich mir die Szenen ins Gedächtnis. Das Gedränge, das kurz vor Neujahr geherrscht hatte, Shimamotos Gang, jede Ecke, um die wir bogen, den bewölkten Himmel, die papierne Kaufhaustüte in ihrer Hand, ihren unberührten Kaffee, die Weihnachtslieder. Wieder fragte ich mich voll Reue, warum ich Shimamoto damals nicht einfach angesprochen hatte. Ich war ungebunden gewesen und hätte nichts zu verlieren gehabt. Ich hätte sie in die Arme nehmen und mit ihr fortgehen können. Ganz gleich, in welcher Lage Shimamoto damals gewesen sein mochte, gemeinsam hätten wir eine Lösung gefunden. Aber diese Gelegenheit hatte ich für immer vertan. Der geheimnisvolle Mann hatte mich am Ellbogen festgehalten, während Shimamoto ins Taxi gestiegen und verschwunden war.
    Es herrschte abendlicher Berufsverkehr, und ich fuhr in einer überfüllten U-Bahn zurück nach Aoyama. Während ich im Kino gewesen war, hatte es einen Wetterumschwung gegeben, und der Himmel war nun von dichten, schweren Wolken bedeckt. Es konnte jeden Moment anfangen zu regnen. Ich hatte keinen Schirm bei mir und trug noch die Windjacke, die Jeans und die Turnschuhe, in denen ich am Morgen ins Schwimmbad gegangen war. Eigentlich hätte ich nach Hause fahren müssen, um mich umzuziehen. Aber mir war nicht danach. Egal, dachte ich, einmal kann ich ja wohl ohne Krawatte in die Bar gehen. Es wird schon niemanden stören.
    Gegen sieben fing es an zu regnen. Es war ein herbstlicher Nieselregen, der vermutlich lange anhalten würde. Wie immer schaute ich zuerst in der größeren Bar vorbei und beobachtete, wie das Geschäft lief. Durch meine sorgfältige Planung und meine ständige Anwesenheit während des Umbaus war alles ziemlich genau so ausgefallen, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die Bar war nun viel funktionaler, zugleich aber auch behaglicher. Es herrschte ein weiches Licht, und die Musik unterstrich diese gedämpfte Atmosphäre. Ich hatte eine separate Küche eingerichtet und einen richtigen Koch eingestellt. Auf der Speisekarte standen einfache, aber anspruchsvolle Gerichte aus nicht übermäßig vielen Zutaten, die jedoch ein Laie nicht hätte zubereiten können. Das war der Grundgedanke. Schließlich dienten sie als Häppchen zu den Getränken und mussten entsprechend leicht zu verzehren sein. Einmal im Monat entwarfen wir eine komplett neue Speisekarte. Es war nicht ganz einfach gewesen, einen Koch zu finden, der die Speisen so zubereiten konnte, wie ich sie mir vorstellte. Am Ende fand ich einen, aber ich musste ihm ein horrendes Gehalt zahlen, weit mehr, als ich geplant hatte. Aber er war es wert, und ich war mit dem Ergebnis zufrieden. Und meine Gäste anscheinend auch.
    Gegen neun nahm ich einen Schirm aus der Bar mit und ging hinüber ins Robin’s Nest. Um halb zehn kam Shimamoto. Seltsam, immer erschien sie an Abenden, an denen ein leiser Regen fiel.

14
    Shimamoto trug ein weißes Kleid. Über ihre Schultern hatte sie eine weite marineblaue Jacke gelegt, an deren Kragen eine kleine silberne Brosche in der Form eines Fisches steckte. Das Kleid war schmucklos und einfach geschnitten, aber an ihr wirkte alles edel und elegant. Ihre Haut schien etwas gebräunter als beim letzten

Weitere Kostenlose Bücher