Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption
ausgetrunken hatte, zog er eine Waffe und schoss sich in den Mund.
Shepard fährt mit den Fingern über die Stele aus Kunstmarmor. Seit dem Massaker von Redemption hat Marcellus den Staat Mississippi nicht mehr verlassen. Er arbeitete zunächst als Wachmann einer großen Tankstelle, dann in einer Druckerei und fand schließlich eine feste Stelle in einem Zeitungsarchiv in Jackson. Um diese Zeit aber holten ihn seine Dämonen ein, und er begann das zu werden, was er am meisten hasste. Das FBI kam ihm auf die Spur. Eines Morgens drangen Beamte in die kleine Wohnung über den Redaktionsräumen ein, die er gemietet hatte, und beschlagnahmten die Festplatte seines Computers, auf der Tausende pädophiler Fotos gespeichert waren.
Weil er jedoch nur Bilder besaß und nie handgreiflich geworden war, begnügte sich das Gericht, das ihn verurteilte, mit vier Jahren Haft. Fortan aber stand er auf der Liste pädophiler Straftäter und suchte bei einer alten Tante in Calhoun City Zuflucht. Irgendwann ließ ihm sein Trieb gar keine Ruhe mehr, und es kam der Tag, an dem er seine fünf Briefe verschickte und einen letzten Kaffee in der Sonne trank.
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Die Bruchbude steht zwischen ein paar Tagwerk Land, auf dem Tabak angebaut wird. Leise rascheln die gelblichen Blätter im Wind. Ein uralter asthmatischer Hund zerrt an seiner Leine. Wendy klopft an den Holzrahmen der Fliegengittertür. Drinnen stoppt das Knarzen eines Schaukelstuhls, Pantoffeln schlurfen über das Linoleum. Hinter dem Fliegengitter erscheint eine alte Frau mit weißem Haar und milden Gesichtszügen. Sie hat sehr blaue Augen.
»Sind Sie Wendy und Peter?«, fragt sie.
»Ja.«
»Marcellus hat schon gesagt, dass Sie irgendwann kommen.«
Das Fliegengitter öffnet und schließt sich wieder. Über den Flur gelangen sie in ein abgedunkeltes Wohnzimmer. Die Alte setzt sich wieder in ihren Schaukelstuhl. Sie schlürft Tee aus einer angeschlagenen Porzellantasse. Beim Schlucken gibt sie eigenartige Geräusche von sich.
»Marcellus hat gesagt, ich soll Sie in sein Zimmer lassen, dann werden Sie alles verstehen.«
Sie deutet auf die mit allerlei Krimskrams vollgestellte Treppe. Mehr zu sich fügt sie hinzu: »Er war ein guter Junge.«
Wendy folgt Peter die Treppe hinauf. Die Tür zu Marcellus’ Zimmer steht offen. Es riecht nach unbehandeltem Holz und alter Tapete. Auf wackligen Regalen stehen Hunderte Bücher, Westernplakate rahmen das Fenster ein. An der Wand gegenüber steht ein Aquarium, dessen Wasser trüb und zähflüssig wie Sirup geworden ist. Das Bett ist gemacht. Auf dem Kopfkissen liegt ein Umschlag. Darin findet Peter einen Schlüssel. Er sperrt damit die Tapetentür in der Ecke des Zimmers auf, hinter der eine knarrende Holzleiter in den Speicher führt. Der Wind pfeift durch den Dachstuhl. Peter betätigt einen Schalter, und zwischen den Balken flackern zwei Neonröhren auf. In der Mitte des Raums steht ein großer Schreibtisch, darauf ein Laptop, ein Scanner, ein Drucker. Daneben liegt, mit einem dicken Leuchtmarker beschwert, ein ganzer Stapel identischer Ausdrucke: Es ist das Foto mit den rot umrandeten Köpfen.
Peter blickt auf. An einer Stellwand neben dem Schreibtisch hängen Zeitungsausschnitte und Fotos von Redemption. Die ersten Artikel stammen aus dem Jahr 1970, als das Zentrum eröffnet wurde. In jenem Sommer hatte ein Journalist aus Jackson versucht, den Fall einer jungen Ausreißerin namens Jessica Brenner zu recherchieren, die verschwunden war. Ein paar Wochen später wurde das Auto, mit dem sie unterwegs gewesen war, aus einem Seitenarm des Mississippi gezogen. Ihre Leiche wurde nie gefunden.
Das vergilbte Zeitungspapier knistert unter Peters Fingern. Die Jahre ziehen vorüber. Auch die Gesichter auf den Fotos von Häftlingen. Auf manchen Bildern thront Reverend Esterman inmitten seiner Herde.
Peter kommt zu den Bildern, die Pressefotografen am Morgen nach dem Blutbad aufgenommen haben. Beamte der Staatspolizei in gelben Regenjacken, Dutzende Bundespolizisten und Gerichtsmediziner an den verschiedenen Tatorten überall auf dem Gelände. Das grelle Blaulicht der Polizeifahrzeuge und in seinem Widerschein Blutlachen und Leichen. Peter stutzt. Auf einem anderen Bild, das alle großen Tageszeitungen in den Südstaaten auf ihrer Titelseite brachten, sieht er sich im Gespräch mit Ackermann, Wendy an seiner Seite. Das Bild war unmittelbar nach dem Zugriff der Bundespolizei aufgenommen worden. Peter hatte die Verlorenen Jungs im Gras liegen
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