Sünden der Nacht
angerichtet hat.«
»Nur mein Stolz ist verletzt«, murmelte sie. »Ich zieh Leine, Chief. Wir sehn uns später.«
13 Uhr 07, -30 Grad, Windabkühlungsfaktor: -45 Grad
»Tut mir leid. Ich konnte nicht – h-ha-ah-hatschi!« Carol Hiatt begrub ihre Nase in einer Handvoll Papiertaschentücher und schloß für einen Moment die Augen, eine erschöpfte Kapitulation vor dem Virus, der das gesamte Krankenhauspersonal plagte.
»Gesundheit«, sagte Megan.
Die Empfangsdame putzte sich laut die Nase und warf die Papiertücher in einen überquellenden Papierkorb. »Dieser Virus ist der schlimmste«, vertraute ihr sie mit krächzender Stimme an. Das Fieber hatte ihr lockiges Haar zu einem schwarz-gefärbten Staubwedel über ihrem langen, ovalen Gesicht verklebt. Ihre geschwungene Nase war wund und rot. Sie schniefte und stöhnte. »Ich wäre selbst nicht hier, aber die anderen vom Personal sind noch kränker.«
Megan nickte, versuchte Mitgefühl zu signalisieren. Hinter ihr, im Wartebereich heulten ein Baby und ein Kleinkind, ein ziemlich unmusikalisches Duett, und ein drittes Kind hämmerte etwas Atonales auf einem Fisher-Price-Xylophon. Im Fernsehen lief Geraldo – er interviewte erwachsene Kinder von Transvestitenpfarrern.
358
»Tut mir leid«, sagte Carol noch mal. »Ich bin das alles mit dem anderen Beamten am Freitag durchgegangen. Erinnern kann ich mich an diesen Anruf nicht, aber an dem Abend war hier ein Irrenhaus. Wer das Telefon in der Eishalle beantwortet hat, ist mir unbekannt.«
»Er hat seinen Namen nicht genannt?«
»Ich kenne keinen Mann, der das am Telefon macht. Die
fangen alle einfach zu reden an, als müßte man wissen, wer sie sind … als ob man bloß rumsitzen und drauf warten würde, daß sie den Hörer in die Hand nehmen«, sagte sie angewidert. Sie hielt ein frisches Taschentuch unter die Nase und quetschte es in die Form einer Nelke.
Megan strich das Wort Empfangsdame in ihrem Notizbuch aus. »Sie meinen nicht, daß es Ihnen wieder einfällt, beim Klang seiner Stimme?«
»Ich wünschte, ich könnte ja sagen.« Carol zog noch eine Handvoll Taschentücher aus der Box neben dem Telefon, als ihre Augen sich mit Tränen füllten. »Ich liebe und verehre Hannah. Sie ist der beste Mensch, den ich kenne. Wenn ich mir vorstelle, daß jemand einfach ihren kleinen Jungen mitnimmt und ihm Gott weiß was antut …«
Carol hob ihr schmerzgepeinigtes Gesicht. »Tut mir leid. Ich hab selbst einen Sohn – Brian. Er ist Joshs bester Freund. Sie spielen im selben Eishockeyteam. Er war an dem Abend auch dort. Es hätte er sein können – furchtbar …«
Megan legte eine Hand auf ihre Schulter. »Ist schon okay«, sagte sie leise. »Ich weiß, daß Sie helfen würden, wenn Sie könnten. Es war nur eine vage Hoffnung, machen Sie sich deshalb keine Vorwürfe.«
» Bitte finden Sie Josh«, flüsterte die Frau. Für Megan hörte sich ihre Stimme wie eine Stellvertretung aller anderen in Deer Lake an. Alle litten, alle waren entsetzt. Sie ließen nachts ihre Verandalichter brennen, mit Plakaten an ihren Haustüren, auf 359
denen stand: LICHTER AN FÜR JOSH. Denn nicht nur Josh
war geraubt worden, sondern auch ein Teil ihrer
Kleinstadtunschuld und -vertrauens.
Leslie Olin Sewek hatte einiges abzubüßen.
»Wir tun alles, was in unserer Macht steht«, sagte Megan.
Auf dem Hinausweg entdeckte sie den Pfeil an der Wand, der zur Cafeteria führte. Sie folgte ihm. Vielleicht würde eine Prise Koffein ihr Kopfweh vertreiben.
Die Cafeteria war nur ein Raum mit Tischen und Stühlen und einer Reihe Automaten. Ein paar Handwerker saßen an einem Tisch in der Ecke, würfelten und tranken Kaffee. Sie schauten nicht einmal hoch, als sie hereinkam.
Megan steckte zwei Münzen in den Getränkeautomaten und drückte den Knopf für Mineralwasser. Christopher Priest wanderte herein, als die Dose durch den Bauch der Maschine rumpelte. Der schwarze Rollkragenpullover klebte an seiner schmalen Brust und kroch seine dünnen Unterarme hoch. Die mageren, knochigen Hände ragten aus den zu kurzen Ärmeln.
»Agent O’Malley.« Seine Augen glänzten überrascht hinter seiner großen Brille. Die Winkel seines lippenloses Mundes zuckten nach oben. »Was bringt Sie denn in die Klinik? Doch hoffentlich nicht dieser Virus, der hier grassiert?«
»Nein, mir geht’s gut. Und Sie, Professor?«
»Einer meiner Studenten liegt hier.« Er fütterte den Kaffee-automaten mit ein paar Münzen und bestellte sich einen starken, mit Sahne und
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