Sünden der Nacht
Zucker.
Megan öffnete ihre Mineralwasserdose, fischte eine Tablette aus ihrer Handtasche und spülte sie mit einem langen Schluck hinunter.
Währenddessen beobachtete sie, wie ordentlich und penibel Priest seine Tasse aus dem Automaten nahm und zum Tisch trug. Mit einem Papiertaschentuch wischte er sorgfältig die 360
verschütteten Tropfen vom Rand, dann faltete er es ordentlich und legte es im rechten Winkel links neben seine Tasse.
»Ach ja«, sagte sie und setzte sich in einen Stuhl zur Linken des Professors. »Der Junge, der in derselben Nacht, als Josh entführt wurde, in einen Autounfall verwickelt war?«
»Ja.« Er nippte an seinem Kaffee, den Blick starr geradeaus gerichtet, während der Dampf seine Brille beschlug. »Genau.«
»Wie geht es ihm?«
»Nicht sehr gut, offen gestanden. Es scheinen ein paar Komplikationen aufgetaucht zu sein. Sie müssen ihn möglicherweise in ein größeres Krankenhaus nach Twin Cities verlegen.«
»Das ist ja schrecklich.«
»Mmm …« Sein Blick wanderte durch den Raum zu einem
besonders bunten Poster von dem Heimlich-Manöver. »Mike war unterwegs, um etwas für mich zu erledigen«, sagte er so leise, als würde er ein Selbstgespräch führen. »Für das Projekt über verschiedene Auffassungsgaben und Lernen.«
»Das, von dem Dr. Wright neulich sprach?«
»Ja, Mike sagt immer wieder, daß die Straße völlig trocken war, bis er in diese Kurve fuhr.« Er nahm noch einen Schluck Kaffee und tupfte seinen Mund mit der Serviette ab. »Das Leben ist schon komisch, nicht wahr?«
»Ja, aus meiner Sicht ist es der totale Lacher.«
Er ignorierte ihren Sarkasmus. Seine Neugier war scheinbar rein analytisch und seine Frage mehr an die Welt im
allgemeinen gerichtet. »Ist es Schicksal oder ist es Zufall? Was hat Mike Chamberlain in diesem Augenblick an diese Ecke geführt? Was hat Josh Kirkwood an diesem Abend alleine auf den Gehsteig getrieben? Was hat Sie und mich zur selben Zeit hierhergebracht?«
»Klingt wie Fragen der philosophischen Fakultät.«
»Nicht unbedingt. Computerwissenschaft beschäftigt sich mit 361
Logik, Ursache und Wirkung, mit Denkmustern.«
»Ja, also, Professor«, verkündete Megan, nachdem sie ihr Mineralwasser ausgetrunken und die Dose in den Mülleimer geworfen hatte, »wenn Sie und Ihre Computer eine logische Erklärung für die ganze Scheiße, die auf dieser Welt passiert, finden, dann möchte ich es als erste erfahren.«
362
Kapitel 21
21 Uhr, -33 Grad; Windabkühlungsfaktor: -52 Grad
Arlan und Ramona Neiderhausers Zuhause roch stark nach Mottenkugeln. Der Geruch schlich sich in Mitchs Nase und brannte bis in die Stirnhöhlen. Er saß in einem geraden Stuhl, den er sich aus dem Eßzimmer geholt hatte, und starrte mit dem Fernglas durch das Schlafzimmerfenster auf Olies dunkle Bleibe auf der anderen Straßenseite. Oscar Rudds Haus war hell erleuchtet, der Schein ergoß sich auf die schrottreifen Saabs, die in seinem Hof standen.
Megan stand neben dem Fenster, eine Schulter an die Wand gelehnt und spähte hinter dem Vorhang hervor. Sie trugen beide ihre Jacken – damit sie jederzeit hinauslaufen konnten, und zum Schutz gegen die abgestandene, kalte Luft des Hauses. Die Neiderhausers hatten ihren Thermostat nur so weit aufgedreht, daß die Rohre nicht einfroren. Draußen sank die Temperatur stetig und drohte den Rekordwert zu brechen, der seit dreißig Jahren bestand. Die Kälte war so extrem, daß sich in der Luft Eiskristalle bildeten und ein Phänomen namens Schneenebel erzeugten, ein seltsamer dünner Nebel, der über dem Boden schwebte wie ein Spezialeffekt aus einem Horrorfilm. Steiger hatte sich trotz der Kälte bereit erklärt, in einem Zivilwagen auf der Straße zu bleiben. Die Leute vom BCA, vom Sheriffbüro und der Polizei waren an strategischen Punkten in der Stadt verteilt, damit Olie verfolgt werden konnte, egal wohin er ging.
Das mobile Labor wartete am alten Feuerwehrhaus, bereit, sofort auszurollen, um die Durchsuchungsbefehle auszuführen.
»Gott, wie ich dieses Wetter hasse«, sagte Megan in dem 363
gedämpften Ton, den abgedunkelte Schlafzimmer scheinbar verlangten. »Weißt du, daß es heute abend am Nordpol wärmer sein wird als hier?«
»Willst du an den Nordpol ziehen?«
»Ich will auf die Cayman-Inseln ziehen.«
»Der Krawall der Steelbands würde dich innerhalb eines Monats in den Selbstmord treiben.«
»Wenigstens würde ich im Warmen sterben.«
Mitch wechselte das Fernglas in die andere Hand und
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