Sünden der Nacht
fort.« Sie bückte sich und nahm ihre Tochter auf den Arm. Lily kuschelte sich an sie, schnaufte schläfrig.
»Paul auch?« Tom zog die Brauen hoch. Er stand auf und machte einen halbherzigen Versuch, die Falten aus einer Hose zu klopfen.
»Ich weiß nicht, wohin er gegangen ist«, Hannah senkte die Lider. Sie wollte das Mitleid in seinen Augen nicht sehen, hatte es satt, von Leuten bemitleidet zu werden.
»Ich hab den Streit gehört«, sagte er leise. »Er hat es sicher nicht so gemeint, schlägt jetzt um sich. Natürlich hilft das nicht gegen den Schmerz. Ich weiß …«
Sie schüttelte den Kopf. »Es spielt keine Rolle.«
»O doch«, widersprach Tom. »Er sollte einsehen, daß du nicht schuld bist oder dir zumindest verzeihen.«
»Warum sollte Paul mir verzeihen, wenn ich mir nicht einmal selbst verzeihen kann?«
»Hannah …«
»Es ist wahr.« Sie wanderte ruhelos durch das gemütliche Schlafzimmer mit seinen zartrosa Wänden und den Beatrix-Potter-Dekorationen. »Tausend Mal habe ich diesen Abend durchgelebt.
Hätte ich doch bloß das getan, hätte ich doch bloß dies getan … Es kommt immer wieder auf dasselbe raus: Ich bin Joshs Mutter. Er hat sich auf mich verlassen, und ich habe ihn vergessen. Wer, 489
Himmel noch mal, sollte mir diese Sünde vergeben?«
»Gott vergibt dir.«
Diese Feststellung war so arglos, das sie Hannah fast kindisch in ihrem Vertrauen vorkam. Sie wandte sich ihm zu, in der Hoffnung, er könnte ihre Fragen deutlicher beantworten, obwohl ihr die momentane Aussichtslosigkeit völlig klar war.
»Warum bestraft er mich dann ohne Ende?« bohrte sie, und der Schmerz schwoll erneut an. »Womit hab ich das verdient?
Was hat Josh getan oder Paul? Ich begreife es nicht.«
»Niemand kennt das Schicksal«, flüsterte er mit heiserer Stimme. Er verstand es genauso wenig wie sie, und das war seine Sünde, wie er annahm – eine von vielen – nämlich, daß er dem Gott, den er kennen sollte, nicht vertraute. Wie konnte so etwas für irgend jemanden das Beste sein? Warum sollte Hannah leiden, wo sie doch so vielen Menschen soviel gab? Er konnte es nicht akzeptieren oder sich selbst daran hindern, dem Gott, dem er sein ganzes Leben gewidmet hatte, gegenüber Zorn zu empfinden! Genauso wie Hannah fühlte er sich verraten. Und deshalb empfand er Schuld, und seine Schuldgefühle machten ihn rebellisch wegen der Beschränkungen, die ihm seine Position auferlegte. Obendrein beschlich ihn Angst bei dem Gedanken, wohin ihn die Gewissensnot treiben könnte. Die Emotionen bewegten sich immer weiter spiralförmig nach unten.
»Es tut so ungeheuer weh«, Hannah klang gequält. Sie schloß die Augen, drückte Lily fest an sich und wiegte sie hin und her.
Tom nahm sie, ohne zu zögern, in die Arme und zog sie an sich. Sie litt, er würde sie trösten. Wenn dafür später Konsequenzen fällig wären, würde er sie bezahlen. Er drückte Hannahs Kopf an seine Schulter, streichelte ihr Haar und beruhigte sie.
»Ich weiß, daß es weh tut, Hannah«, flüsterte er. »Wie gerne würde ich etwas dagegen tun, irgend etwas, um dir zu helfen, 490
um dieses Leid von dir zu nehmen.«
Hannah gestattete sich, an seiner Schulter zu weinen. Sie nahm den Trost, den er ihr bot; es tat so wohl, von seinen Armen gehalten zu werden.
Zärtlichkeit … er fühlte, was sie fühlte, wollte ihren Schmerz lindern.
All die Dinge, die ihr Mann spenden sollte, aber nicht tat.
Sie hielt sich an ihm fest, während neue Tränen aufwallten –
nicht um Josh, sondern um sich selbst und wegen des
zerrissenen Gewebes ihres Lebens, das einmal so perfekt erschienen war. Ein Traum, zerstört und weggefegt. Sie überlegte, ob er jemals Wirklichkeit gewesen war.
Tom redete ihr zu. Er berührte ihr Haar, ihre Wange, so behutsam, als wäre sie aus Kristall gesponnen. Seine Lippen strichen über ihre Schläfe, sie spürte die Wärme seines Atems.
Offen begegnete sie seinem Blick, fand darin den Spiegel des Tumults ihrer Gefühle – Verlangen, Sehnsucht, Schmerz und Schuld.
Der Augenblick verfing sich und dehnte sich zwischen dem, was sie wollten und wer sie waren, zwischen dem, was korrekt und dem, was ersehnt war. Erkenntnis und Furcht raubten ihnen den Atem.
Lily löste die Verstrickung. Sie protestierte dagegen, zwischen zwei Erwachsenen eingequetscht zu sein und hämmerte empört an die Schulter ihrer Mutter: »Mama, runter!«
Tom trat zurück. Hannah zuckte zusammen.
»Zeit zu schlafen, Lily«, sagte sie leise, drehte sich
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