Sünden der Nacht
verhielt?«
»Oh, ich weiß nicht«, Hannah zuckte die Schultern. »Es war so subtil. Äußerte sich nur in Kleinigkeiten, vor Jahren schon, nehm ich an. Etwa ein Jahr, nachdem wir hierhergezogen sind.«
Nachdem sie sich allmählich im Krankenhaus und in der
Gemeinde etabliert hatte. Der Umzug war Pauls Idee gewesen, und sie fragte sich oft, was er sich wohl dabei vorgestellt hatte.
Sie fragte sich, ob er für sich an eine Rolle wie die ihre in der Gemeinde gedacht hatte, als jemand, der bekannt ist und beliebt und respektiert wird. Am Anfang ihrer Beziehung hatte er ihr anvertraut, daß er jemand werden wollte, jemand anders als der Bücherwurm aus einer Arbeiterfamilie. Hatte er geglaubt, er könnte hier ein anderer werden, jemand, der auf die Leute zuging, sich mit ihnen unterhielt, wo er doch diese Qualitäten gar nicht besaß? Der Gedanke, daß Eifersucht diesen Keil zwischen sie getrieben und ihre Liebe vergiftet hatte, war ihrem Wesen zuwider.
Ein so sinnloses Gefühl, nichts, das zwischen Leuten
aufkommen sollte, die sich geschworen hatten, einander zu respektieren und zu unterstützen.
»Und in letzter Zeit hat er sich noch mehr zurückgezogen?«
fragte Megan.
»Es paßt ihm nicht, daß ich soviel Zeit im Krankenhaus verbringe, seit ich zur Leiterin der Notaufnahme befördert wurde.«
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»Und wie steht es mit seinen Arbeitszeiten? An diesem Abend hat er auch gearbeitet.«
»Die Steuersaison fängt bald an. Er wird viele Überstunden machen müssen.«
»Ist es normal, daß er seinen Anrufbeantworter ignoriert, wenn Sie ihn abends im Büro anrufen?«
Hannah setzte sich auf, ihre Augen wurden schmal, und etwas verkrampfte sich in ihrer Brust. »Warum stellen Sie mir diese Fragen?«
Megan erwiderte das mit einem, wie sie hoffte, betretenen Blick. »Ich bin ein Cop, das gehört zu meinen Aufgaben.«
»Sie glauben doch wohl nicht etwa, daß Paul etwas damit zu tun hat?«
»Nein, nein, natürlich nicht. Das ist reine Routine«, log Megan. »Wir müssen wissen, wo jeder war, verstehen Sie, bevor die Anwälte den in die Finger kriegen. Die sind ganz wild auf Einzelheiten. Sogar Mutter Teresa würde ein Alibi brauchen, wäre sie hier. Wenn wir diesen Typen erwischen, wird sein Anwalt wahrscheinlich versuchen, es jemand anderen
anzuhängen. Er wird versuchen zu beweisen, daß sein Klient um sechs Uhr heute morgen woanders war. Wenn er schleimig genug ist, wird er fragen, wo Sie heute morgen um sechs Uhr waren, und auch Paul.«
Hannah blinzelte sie an, mit bewußt ausdruckslosem Gesicht.
»Ich weiß nicht, wo Paul war. Er war fort, als ich aufgewacht bin, hat gesagt, er sei allein losgefahren, um einfach in der Stadt noch mal zu suchen … Sicherlich, hat er das gemacht«, sagte sie, und es klang, als wolle sie nicht nur Megan überzeugen, sondern auch sich selbst.
»Vermutlich haben Sie recht«, stimmte Megan ihr zu. Sie speicherte jede Einzelheit dieser Szene in ihrem Gedächtnis –
die Fakten, Hannahs Tonfall, ihren Gesichtsausdruck, die knisternde Spannung. »Ich wollte auch nichts anderes
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unterstellen, sondern Ihnen nur verständlich machen, warum wir einige dieser Fragen stellen müssen. Worauf ich eigentlich abziele: ob Ihnen vielleicht irgendwelche Namen eingefallen sind – Leute, die auf Sie oder Paul sauer sein könnten. Ein unzufriedener Patient, ein verärgerter Klient, so jemand?«
»Sie haben bereits jeden vernommen, den wir kennen«, sagte Hannah. »Und mir fällt beim besten Willen kein Patient ein, der Grund haben könnte, so etwas Entsetzliches zu tun. Die meisten Fälle, die wir in einem so kleinen Krankenhaus wie dem unseren kriegen, sind entweder leicht zu behandeln oder gleich tödlich.
Die meisten kritischen Fälle – Unfallopfer und so weiter –
werden direkt in ein Großklinikum geflogen. Patienten mit ernsthaften Erkrankungen überweist man ebenfalls in größere Krankenhäuser.«
»Aber Sie haben doch auch Verluste zu beklagen.«
»Ein paar.« Ihr Mund hing herab. »Ich erinnere mich, damals als ich noch in den Twin Cities arbeitete, haben wir kleine Landkrankenhäuser wie das in Deer Lake ›Etikett-drauf-und-ab-in-den-Sack-Kaschemmen‹ genannt. Wir tun unser Bestes, aber wir haben weder die Ausrüstung noch das Personal wie die großen Zentren. Die Menschen hier verstehen das.«
»Vielleicht.« Megan nahm sich vor, ins Gemeindekrankenhaus von Deer Lake zu fahren, um dem Personal der Notaufnahme selbst auf den Zahn zu fühlen.
»Was Pauls Klienten
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