Sünden der Nacht
angeht: Da sind jedes Jahr ein paar, die Zeter und Mordio schreien, weil sie soviel Steuern zahlen müssen, aber das ist ja wohl kaum seine Schuld.«
»Keine katastrophalen Steuerprüfungen, zum Beispiel, Leute, die ins Gefängnis müssen?«
»Nein.« Hannah stand wieder auf, sie war so nervös, daß sie nie länger als ein paar Minuten stillsitzen konnte, gleichgültig, wie müde sie war. »Ich werde Tee kochen. Möchten Sie auch einen? Es ist so kalt …«
486
Und Josh irrte irgendwo umher, ohne seinen Anorak.
Draußen vor dem Panoramafenster dunkelte es, kalt und
schwarz wie in einer Gruft.
»Glauben Sie, er ist am Leben?« flüsterte sie und starrte hinaus in die Nacht, in die Josh vor acht Tagen verschwunden war.
Megan stand auf und stellte sich neben sie. Vor kaum mehr als einer Woche hätte jeder in der Stadt geschworen, Hannah besäße alles – eine Karriere, Familie, ein Haus am See. Die halbe Stadt hatte sie als Inbegriff moderner Fraulichkeit betrachtet. Jetzt war sie nur ein Häuflein Verzweiflung, zerschmettert und verwundet, die sich an einen Hoffnungsfaden, dünn wie ein Haar, klammerte.
»Er ist am Leben, solange wir nichts anderes hören«, sprach Megan ermutigend. »Daran glaube ich, und das müssen Sie auch!«
Pauls Bürotür schwang auf. Er stürmte heraus und verließ das Haus durch den Ausgang zur Garage. Mitch kam aus dem Büro, er sah grimmig und völlig erschöpft aus.
»Ich weiß nicht, wie ich an ihn rankommen soll«, ratlos trat er ins Wohnzimmer.
»Ich auch nicht«, gestand Hannah. »Sollten wir eine
Selbsthilfegruppe gründen?«
Mitch rang sich ein Lächeln zu diesem kläglichen Scherz ab.
Er nahm ihre Hände in die seinen und drückte sie. Ihre Finger waren eiskalt. »Tut mir leid, Hannah. Das alles übersteigt mein Fassungsvermögen. Ich wünschte, wir kämen schneller voran.«
»Ihr tut doch alles, was in eurer Macht steht. Es ist nicht eure Schuld.«
»Und deine auch nicht!« Er zog sie tröstend in seine Arme.
»Halt durch, Liebes.«
Hannah brachte sie zur Tür und entließ sie in die eisige Nacht.
487
Auf dem Weg zurück durchs Wohnzimmer blieb sie kurz stehen und lauschte der Stille. Ihr ›Aufpasser‹, wie sie den Agent, der ihrem Haus zugeteilt war, nannte, war bei Mitchs und Megans Erscheinen zum Essen gegangen und würde erst später
zurückkommen. Sie hatte sich eine Pause von der Schichtwache der Nachbarn erbeten und bekommen, ebenso wie vom langen Arm der Organisation für vermißte Kinder. Das Haus war still, ruhig, die Spannung verflogen.
Sie fragte sich, wo Paul steckte, wieviel Zeit sie wohl hätte, bis er zurückkam und die Feindseligkeiten ihre Fortsetzung fänden.
Wie lange würde es noch dauern, bis der Bruch zwischen ihnen geheilt wäre? Eine Woche, einen Monat, ein Jahr? Würden sie Josh wiederhaben, bevor das passierte? Wollte sie überhaupt eine Versöhnung? Vor ihrem geistigen Auge sah sie einen Anorak im Schilf von Ryan’s Bay liegen.
Als die Angst und die Furcht und die Schuldgefühle wieder ihr sinnloses Kreiseln in ihr aufnahmen, stieg sie die Treppe hoch und tappte den Korridor hinunter zu Lilys Zimmer. Lily war ganz von allein Trost und Liebe, bedingungslos, ohne zu werten, ohne Fragen zu stellen.
Der Klang einer sanften Stimme im Zimmer ließ Hannah
abrupt verharren. Die Tür stand offen, gedämpftes Licht ergoß sich wie ein Mondstrahl auf den Teppich. Sie lugte durch den Spalt und sah Pater Tom in dem alten Korbschaukelstuhl sitzen, mit Lily auf dem Schoß, die Arme um sie geschlungen, damit er das Bilderbuch halten konnte, aus dem er ihr vorlas.
Jeder Fremde hätte gedacht, sie seien Vater und Tochter. Tom mit seinem Sweatshirt, der zerknitterten Cordhose und seiner goldgeränderten Brille, die im Lampenschein blitzte. Lily in einem violetten Schlafanzug, mit rosa Bäckchen, die großen Augen schon halb geschlossen, schläfrig und zufrieden nuckelnd bei den Abenteuern von Winnie dem Puh und seinen Freunden.
Etwas regte sich in Hannah, das sie nicht wagte beim Namen 488
zu nennen, etwas, das einen Beigeschmack von Enttäuschung und Scham hatte. Sie trat ein, nachdem sie das Gefühl verwirrt aus dem Weg räumte.
Tom war ein Freund, und sie brauchte einen Freund, darum ging es – keine Komplikationen, nichts, was Reue erzeugte. Er beendete die Geschichte, klappte das Buch zu, dann schauten beide erwartungsvoll zu ihr hoch.
»Hallo, Mama«, Lily legte den Kopf zur Seite und blinzelte.
»Tag, kleiner Käfer. Alle sind
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