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Sünden der Nacht

Sünden der Nacht

Titel: Sünden der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T Hoag
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planen, zwang die Räder ihres Gehirns, sich zu drehen. Sie zitterte wie ein Alkoholiker im letzten Stadium von Delirium tremens, mußte das letzte Quentchen Kraft zusammenraffen, um nicht zu kollabieren. Die Zähne in die Unterlippe vergraben, kämpfte sie gegen den Drang, sich zu krümmen wie ein Embryo. Einen Fuß vor den anderen, vor den anderen, vor den anderen … Schritt, Schritt, Schritt, Drehen. Schritt, Schritt, Schritt, Drehen … Sie trug ein zu großes Vikinghemd und Wollsocken, Arme und Beine waren nackt. Die Kälte ergoß sich durchs Fenster wie Mondlicht, schien durch Haut und Gewebe in ihre Knochen zu dringen.
    So kalt … Ist Josh auch kalt? Kalt und allein. Eiskalt. Steinkalt … »Was machst du da?«
    Hannah riß den Kopf herum, als sie Pauls Stimme hörte. Ihre Hände waren abgestorben. Sie sah ihre Handabdrücke auf dem Fenster, wo ihr Atem das Glas beschlagen hatte.
    »Ich konnte nicht schlafen.«
    Paul schwang seine Beine über die Bettkante, setzte sich auf und zog die Daunendecke über seinen Schoß. Im fahlen Licht des Raums sah
er grau und dünn aus, älter, härter: Falten des Zorns und der Enttäuschung hatten sich neben den Augen und dem Mund in seinem Gesicht gebildet. Ein Seufzer entwischte seiner Kehle, als er die Lampe anschaltete und einen Blick auf den Wecker warf.
    »Ich muß heute etwas tun«, verkündete Hannah, was sie mindestens genauso überraschte wie ihn. Die Worte hallten durch ihren Kopf, wurden greifbar und nachdrücklich. Sie richtete sich auf, mußte um jeden Preis wieder ein Stück von sich selbst finden. Schließlich war sie es gewohnt, angesichts von Krisen in Aktion zu treten. Zumindest hatte man die Illusion des Beteiligtseins. »Ich muß aus diesem Haus raus. Wenn ich noch einen Tag hier sitze, werde ich wahnsinnig.«
    »Du kannst hier nicht weg«, fuhr Paul auf. Er schlug die Bettdecke zurück, erhob sich und zog seine weite, gestreifte Pyjamahose hoch, dann nahm er seinen schwarzen Frotteemantel, der am Fuß des Betts lag, um seine Schultern. »Du mußt hierbleiben, für den Fall, daß sie anrufen.«
    »Du kannst das Telefon genausogut beantworten wie ich.«
    »Aber ich muß doch mit dem Suchtrupp …«
    »Nein, Paul. Ich verlasse dieses Haus.«
    Er lachte höhnisch. »Und was, bitte, willst du tun? Glaubst du etwa, du holst den Karren aus dem Dreck? Dr. Garrison, Retterin der Menschheit! Ihr Mann kann den Sohn nicht finden, aber ihr wird es gelingen?«
    »Verflucht noch mal, Paul!« schrie sie wutentbrannt. »Warum nimmst du alles so verdammt persönlich? Ich hab die Nase so voll von deiner Eifersuchtsnummer, daß ich kotzen könnte. Tut mir leid, wenn du meinst, du wärst der Sache nicht gewachsen …«
    »Habe ich nie gesagt, ich würde mich der Sache nicht gewachsen fühlen«, schrie er. »Ich wollte damit sagen, daß du glaubst, keiner kann irgend etwas so gut wie du.«
    »Das ist doch absurd.« Sie drehte ihm den Rücken zu und begann Kleidung aus ihrer Kommodenschublade zu zerren, warf sie oben auf die Platte ohne Rücksicht, wie viele Flaschen Parfum dabei umfielen. »Du warst die letzten zwei Tage unterwegs und hast Josh gesucht. Warum verstehst du nicht, daß ich auch eine Chance brauche? Warum kannst du nicht …«
    Der Rest der Frage erstarb auf ihren Lippen, weil eine Woge von Emotionen über ihr zusammenschlug.
    »Wir haben doch immer alles geteilt«, flüsterte sie, den Blick auf sein
Spiegelbild gerichtet. »Wir waren richtige Partner. Und so entsetzlich das hier auch ist, früher hätten wir die Last geteilt. Mein Gott, Paul, was ist nur aus uns geworden?«
    Sie hörte, wie er seufzte, drehte sich aber nicht um und vermied es auch, seinem Blick im Spiegel zu begegnen, aus Angst, dort nur Ungeduld statt Bedauern zu sehen.
    »Tut mir leid«, murmelte er und stellte sich hinter sie. »Ich hab das Gefühl, meinen Verstand zu verlieren. Du weißt, wie ich auf Hilflosigkeit reagiere, ich brauche das Gefühl, etwas bewerkstelligen zu können.«
    »Das brauch ich auch!« Sie wandte sich zu ihm, ihr Blick flehte um Verständnis. Sie sah in seine Augen und versuchte, den Mann zu finden, den sie geheiratet, den sie geliebt hatte. »Mir geht es genauso. Warum begreifst du das nicht?«
    Oder ist es dir egal? Die Frage schwebte unausgesprochen im Raum, der Augenblick dehnte sich bis zum Zerreißpunkt. Ein Dutzend Situationen huschten durch Hannahs Kopf – die Kluft zwischen ihnen würde geheilt werden, der Paul von einst würde zurückkehren, der Alptraum

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