Sünden der Nacht
abrupt mit ihrem plötzlichen Erwachen enden, oder seine Augen würden plötzlich fremd und er würde bekennen, es wäre ihm egal … die Kluft zwischen ihnen driftete auseinander zu einer unüberbrückbaren Schlucht …
Er senkte den Blick, als Lily im Zimmer am Ende des Flurs zu weinen begann. »Ja … Los, geh schon«, sagte er. »Ich bleib eine Weile bei ihr.« »Sie wird fragen, wo Josh ist«, murmelte Hannah. »Es sind schon drei Tage …«
Sie strich sich ihr zerzaustes Haar zurück, und die Ängste brandeten wieder in ihr hoch. »Gott, was mir alles durch den Kopf tobt … Fragt er nach uns, friert er, ist er verletzt?« Die schlimmste der Fragen klebte wie ekliger Schleim an ihrem Gaumen, würgte sie, raubte ihr den Atem. Sie hatte Angst, sie auszusprechen, tat es wie unter Zwang. »Paul, was wenn er …«
»Sag’s nicht!« Er zog sie grob in seine Arme, den Blick immer noch auf die Tür gerichtet, als hätte er Angst, eine allzu entsetzliche Realität in ihren Augen zu finden. »Ich will nicht darüber nachdenken.«
Er zitterte. Sie drückte eine Hand auf sein Herz und merkte, daß es raste. Unwissenheit ist nicht Unschuld, sondern SÜNDE.
»Geh und dusch dich«, murmelte er. »Um Lily kümmere ich mich.«
11 Uhr 20, – 7 Grad
»Kaufen Sie eine Chance! Geben Sie einen Dollar! Helfen Sie, Josh nach Hause zu bringen!« Al Jacksons Stimme dröhnte aus der Bude der Senior Hockey League quer durch den Park. Er hatte sich warmgebrüllt und blieb dabei, wiederholte den Spruch mit der Regelmäßigkeit eines Metronoms. Der Ruf erinnerte allzu sehr an einen Jahrmarktschreier, der die Einfaltspinsel zu einem getürkten Glücksspiel lockte.
Hannah drehte sich der Magen um. Sie ließ den Blick über den Park schweifen. Was sie sah, kam ihr wie eine surrealistische Version des alljährlichen Snowdaze-Jahrmarkts vor. Hölzerne Buden, drapiert mit bunten Stoffen, standen rund um und kreuz und quer durch den Park. Hinter ihnen rumpelten tragbare Öfen und stießen wabernde Dampfwolken in die kalte Luft. Die Menschenmenge war in voller Wintermontur erschienen, um an den Darbietungen teilzunehmen und den Eisbildhauern bei der Arbeit zuzusehen. Aber zusätzlich zu den üblichen Spendenaufrufen – neue Uniformen für das Orchester und Computer für die Stadtbibliothek, Gelder für das Sommer-Verschönerungsprojekt der Städtischen Wohlfahrt – sammelte jede Bude Geld für Joshs Auffindung.
Noble Gesten. Überwältigende Großzügigkeit. Ein rührendes Bekenntnis zu Beistand und Liebe. Hannah sagte sich diese Phrasen immer wieder vor und wurde trotzdem das Gefühl nicht los, daß sie von einem Alptraum in den nächsten stolperte. Es machte sie völlig fertig zu sehen, wie die Leute vom Abhang des Gerichtsgebäudes als riesige Bowlingkegel rutschen und zu wissen, daß jeder von ihnen einen Dollar für die Rettungsaktionen beigesteuert hatte. Ihr wurde ganz übel bei dem Gedanken, daß dieses Festival zu so vielen Darstellungen der Verzweiflung verzerrt worden, und sie an diesem Tag Zentrum der Aufmerksamkeit, die Starattraktion war.
Man hatte sie zur Bude der Freiwilligenzentrale geführt, wo man sie wie die Frau mit zwei Köpfen zur Schau stellte. Sehen Sie die gramgebeugte Mutter beim Austeilen der Poster! Werden Sie Zeuge, wie die schuldige Frau den Getreuen gelbe Trauerbinden anheftet . Sie spürte die Blicke der Reporter. Kaum hatten sie sie entdeckt, sprudelte ein endloser Strom von Fragen aus ihnen heraus – Fragen über ihre Gefühle, Fragen nach Schuld und Verdacht, Bitten um ein Exklusivinterview. Schließlich hatte sie eine Stellungnahme abgegeben und die
Bitte um Joshs Rückkehr ausgesprochen, aber sie waren noch nicht befriedigt. Wie ein Rudel hungriger Hunde, denen man zu wenige Fleischfetzen hingeworfen hat, lungerten sie weiter herum und belauerten sie in der Hoffnung auf mehr. Sie konnte sich nicht bewegen oder reden oder sich die Nase putzen, ohne zu spüren, wie die Kameralinsen sie aufs Korn nahmen.
Die Gesichter einiger Fernsehleute waren vertraut. Sie hatte nur selten Zeit, sich in Ruhe die Nachrichten anzusehen, aber um sechs und zehn liefen sie immer irgendwo im Hintergrund, egal wo sie sich aufhielt. Die Leute von Minnesota verpaßten ihre Nachrichten nicht, die Einheimischen machten sich sogar selbst darüber lustig. Abgesehen von den Ereignissen in den Twin Cities passierte gewöhnlich nicht viel im Lande; aber alle bestanden darauf, die Nichtereignisse am Ende des Tages zu
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