Sünden der Nacht
wie hilflos sie sich gefühlt und wie sehr sie sich nach seinem Beistand gesehnt hatte. Wenn sie mit der Migräne alleine fertig geworden wäre, hätte sie sich viel einfacher aus der Stadt und aus seinem Leben entfernen können. Jetzt waren da die klebrigen Nachwehen von Mitgefühl und Scham, mit denen sie sich rumschlagen mußte. Lose emotionale Fäden, die man nicht einfach abschneiden konnte …
»Kommt drauf an«, sie ließ sich auf die Couch fallen, den Blick auf den Fernseher gerichtet. Ein Werbegenie hatte es irgendwie geschafft, Pizza mit einer alten Dame, die Lippenstift in der Toilette eines Flugzeugs auflegte, in Verbindung zu bringen. »Jedesmal, wenn ich meinen Job verliere oder auf fünf Millionen Dollar Schadenersatz verklagt werde.«
Sein Gesichtsausdruck ließ sie innerlich zusammenzucken. Er hockte sich neben der Lehne der Couch nieder, mit diesem Blick, der schon einmal zu tief in ihr Inneres gezielt hatte. Sie weigerte sich, ihn zu erwidern. Die Gefühle waren zu dicht unter der Oberfläche und sie zu müde, um sie zu kaschieren.
»Megan, ich wünschte …«
»Spar dir die Mühe, es bringt nichts.«
Er beugte sich zu ihr. »Warum läßt du mich nicht helfen, oder zumindest teilnehmen?«
»Weil du nichts reparieren kannst«, sagte sie erschöpft. »Weil du nichts gegen DePalmas Meinung ausrichtest. Du kannst die Tatsche nicht aus der Welt schaffen, daß Paige Price eine berechnende Schlampe ist oder daß ich es im Fernsehen gesagt habe. Du kannst es nicht ungeschehen machen, und ich will kein Mitleid.«
Mitch wurde langsam wütend. »Nein, das kann ich mir denken. Du brauchst kein Mitleid. Du brauchst niemanden – richtig?«
Megan starrte hartnäckig an ihm vorbei in den Fernseher. Er wollte sie aufrütteln, wollte sie dazu bringen, daß sie ihn brauchte und das auch sagte. Sie hatte ihn gebeten, sie festzuhalten, als sie solche Schmerzen hatte, daß sie nicht mehr geradeaus schauen konnte, aber jene Megan und diese waren zwei verschiedene Leute – ein Paar ineinander steckende Puppen, bei dem sich eine in der anderen versteckte und nur selten eine deutlich zum Vorschein kam.
Am liebsten hätte er sich selbst einen Tritt verpaßt, weil es ihm etwas ausmachte. Hatte er sich denn nicht erfolgreich eingeredet, daß er sein Leben so mochte, wie es war – einfach, kontrollierbar, sicher … unverbindlich?
Im Fernsehen würde gleich Hannahs Interview fortgesetzt werden. Mitch ließ sich einen halben Meter von Megans Rechter auf die Couch fallen und zwang Friday, ihren Platz zu räumen. Die Katze warf ihm einen vernichtenden Blick zu, stakste davon und sprang auf eine Kiste mit der Aufschrift ZEUG DAS ICH NICHT BENUTZE. Katie Couric beugte sich in ihrem Stuhl vor, ihre Augen glänzten vor Mitgefühl. »Hannah«, sagte sie sehr leise, »glauben Sie, daß Josh noch am Leben ist?«
Die Kamera zoomte auf Hannahs Gesicht. »Ich weiß, daß er lebt.« »Woher wissen Sie das?«
Sie nahm sich Zeit für die Antwort, überlegte nicht nur die Frage, sondern auch, was ihre Antwort alles mit einbeziehen würde. Dann ergänzte sie mit klarer, sicherer Stimme: »… weil er mein Sohn ist.«
»So sicher war sie sich vor ein paar Tagen noch nicht«, bemerkte Megan und nagte an ihrer Nagelhaut. »Sie hat mich zweimal gefragt, ob ich meine, daß Josh noch lebt. Hat gefragt, als ob sie meine Beschwichtigung brauche. Wie kommt das jetzt?«
»Ein Bewältigungsmechanismus«, murmelte Mitch. »Sie glaubt das, was sie glauben muß.«
Megan hatte das Gefühl, da steckt mehr dahinter, aber sie konnte nicht sagen was. Ihre Meinung spielte ja ohnehin keine Rolle mehr. Marty, der Hundeboy, war jetzt am Drücker. Er würde nicht einmal auf sie hören, wenn sie behauptete, die Welt wäre rund. Und für den Fall hatte es keinerlei Bedeutung. Hannah konnte glauben, was sie wollte. So oder so würde es sie nicht auf Joshs und seines Entführers Spur bringen.
»Wenn Sie wüßten, daß Josh jetzt zuhört, was würden Sie ihm sagen?« fragte Kate Couric Hannah.
Die Kamera zeigte Hannahs Gesicht in Großaufnahme, keine Nuance im Ausdruck sollte jemandem entgehen. Amerika sah alles – den Zorn, die Verwirrung, den Schmerz. Kornblumenblaue Augen, die vor Tränen schimmerten. Zitternder Mund. »Ich liebe dich. Ich möchte, daß du das weißt, Josh, und es auch glaubst. Ich liebe dich so sehr …« Über die Nahaufnahme von Hannah wurde Joshs Foto eingeblendet. Das Schulbild. Josh in seiner Pfadfinderuniform. Das
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