Sünden der Nacht
sie zurück.
Ich liebe dich … Er bewahrte den Gedanken in seinem Herzen, aus Angst, ihn preiszugeben.
Dann war es vorbei, sie verfielen in Stummheit und Reglosigkeit, die vormaligen Zweifel krochen wieder aus ihren Winkeln der Verbannung hervor. Die Grenzen nahmen ihre vormaligen Plätze ein, die Schilde gingen wieder hoch. Herzen in Rüstung, die getrennt und einsam in die Nacht hinaus schlugen.
20 Uhr 55, – 32 Grad, Windabkühlungsfaktor: – 44 Grad
Hannah saß im Dunkeln in ihrem Zimmer. Ihr Zimmer. Wie schnell doch der Verstand diese kleinen Änderungen vornahm. Paul hatte zwei Nächte nicht in seinem Bett geschlafen, und ihr Gehirn lehnte bereits den Plural im Zusammenhang mit ihm ab. Sie wollte nicht daran denken, was das für ihre Zukunft bedeutete. Es war ihr unmöglich, sich den Gefühlen von Schuld, Verlust und Versagen zu stellen, die sie jetzt mit ihrer einst so vollkommenen Ehe verband. Mehr als genug galt es zu bewältigen hinsichtlich des Verlusts und dem Gefühl, versagt zu haben bei ihrem Sohn.
Wie schön wäre es gewesen, aus der Szenerie des Interviews abzutreten und vom Mann, den sie geheiratet hatte, umarmt, beschwichtigt und dann nach Hause gebracht zu werden. Zu wissen, daß sie auf seine Liebe und seine Unterstützung zählen konnte. Statt dessen hatte sie sich selbst nach Hause gefahren. Kathleen Casey, die sich freiwillig angeboten hatte, Lily zu hüten, saß mit McCaskill, dem
BCA Agent, auf der Couch im Wohnzimmer, schaute sich Akte X an und aß Popcorn. Paul war fort.
Paul ist weg. Der Paul, den sie geliebt und geheiratet hatte. Sie kannte den Mann nicht, der Lügen von sich gab, ihr Dinge verheimlichte, ihr die Schuld an der Tat eines Wahnsinnigen zuschob. Sie kannte den Mann nicht, der um die Medien gebuhlt hatte, den Mann, der sich von der Polizei die Fingerabdrücke abnehmen lassen mußte. Wer war er eigentlich, oder wozu fähig?
Über die endlosen Möglichkeiten wollte sie nicht nachdenken, also zwang sie sich, von ihrem Stuhl aufzustehen und sich auszuziehen. Sie konzentrierte sich auf jede einfache Aufgabe, das Aufknöpfen des Kleids, das Zusammenfalten, Wegräumen. Sie nahm ihr vertrautes altes Sweatshirt, zog es über den Kopf und schüttelte sich die Haare aus den Augen. Das Telefon auf dem Nachttisch läutete, als sie gerade nach ihrer Jogginghose griff.
Hannah fixierte den Apparat. Erinnerungen an den letzten Anruf, den sie in diesem Zimmer entgegengenommen hatte, durchdrangen ihre Haut und überzogen sie mit Schweiß. Sie konnte es nicht einfach läuten lassen, wollte es aber auch nicht abheben. McCaskill und Kathleen würden sich wundern, wieso sie nicht ranging.
Mit zitternder Hand nahm sie den Hörer.
»Hallo?«
»Hannah? Garrett Wright hier. Ich hab das Interview gesehen. Ich wollte dir nur sagen, ich fand, du warst sehr tapfer.«
»Äh … ja nun …«, stotterte sie. Es war kein gesichtsloser Fremder, der sie quälen wollte oder Albert Fletcher in den Klauen des Wahnsinns. Es war nicht Josh. Nur ein Nachbar. Karens Mann. Er unterrichtete in Harris. »Es schien mir notwendig.«
»Das verstehe ich. Trotzdem … wenn es auch nichts hilft, ich finde, du hast das Richtige getan. Hör mal, wenn du Hilfe brauchst, das alles durchzustehen, ich habe einen Freund in Edina, der auf Familientherapie spezialisiert ist. Paul gegenüber hab ich ihn auch schon erwähnt, als er neulich abends hier war: Aber ich fürchte, er wollte das nicht hören. Dann solltest du es wenigstens wissen. Du kannst dir den Namen aufschreiben und ihn anrufen oder nicht, aber ich finde, du solltest die Möglichkeit haben.«
»Danke«, Hannah sank aufs Bett.
Sie notierte Namen und Nummer ganz automatisch auf ihrem Block, während sie überlegte, was Paul wohl im Hause der Wrights wollte
und warum er es ihr gegenüber nicht erwähnt hatte. Aber ein Besuch bei den Nachbarn war wohl das geringste seiner Geheimnisse. Keinesfalls wollte sie wissen, was das Schlimmste sein könnte.
Der Gedanke blieb haften und wisperte durch ihren Kopf, als sie den Hörer auflegte und ein schreckliches Gefühl, von Einsamkeit und Angst, klaffte in ihr auf, drohte sie zu verschlingen. Das war das Schwerste an der ganzen Sache – das Gefühl, wie viele Leute ihrer Umgebung ihr auch beistanden, auf der fundamentalsten Ebene allein zu sein. Der einzige Mensch, der ihr wirklich nahestehen sollte, driftete weiter und weiter ab.
Sie starrte ins Leere. Als das Telefon wieder läutete, nahm sie ohne zu zögern ab und
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