Sünden der Nacht
zur Miss Freundlichkeit zu gewinnen.«
»Miss Freundlichkeit ist ein Schwächling«, konterte Megan. »Und übrigens hat heute keiner von uns das Zeug zu einem Schönheitswettbewerb. Sie, Herr Kollege, sehen so aus, wie ich mich fühle.«
Mitch schnitt eine Grimasse. »Ein Bäumchen-verwechsel-dich-Spiel?
Lassen Sie das ja nicht die Jungs von der Presse hören.«
»Ich glaube, die haben da schon ein paar Theorien.«
»Konnten Sie ein bißchen schlafen?«
Die Frage schien überflüssig. So wie sie aussah, hatte sie genausowenig Zeit für sich gehabt wie er. Sie trug eine enge Skihose und einen dicken irischen Fischerpullover über einem Rollkragenshirt. Ihr dunkles Haar hatte sie frisch gewaschen und zu einem praktischen Pferdeschwanz gebunden. Sie war kaum geschminkt, auch nicht gepudert über den violetten Schatten unter ihren Augen.
Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. »Wer braucht schon Schlaf, wenn man eiskalt duschen kann. Ich habe eine Wohnung ohne Heizung, hab meine Beine bei Kerzenlicht rasiert, meine Katzen gefüttert und bin wieder hergekommen. Und wie steht’s mit Ihnen?« »Ich habe einen Hund und heißes Wasser«, klärte er sie auf, »und lasse meine Beine haarig, danke. Haben Ihre Leute irgend etwas gemeldet?«
»Abgesehen von zehn Seiten bekannter Pädophiler? Nein, nicht.«
Er schüttelte den Kopf. Ihm drehte sich der Magen um bei dem Gedanken, daß es im Umkreis von hundert Meilen soviel Abschaum gab, der hinter Kindern her war – und seiner Tochter. Großer Gott, die Welt verwandelte sich in eine Kloake. Selbst hier im ländlichen Minnesota fühlte er, wie der Unrat um seine Schuhe schwappte. Es war, als hätte jemand über Nacht die Schleusen geöffnet.
Er sah sich die Menschenmenge an, als er hinter das Podium trat – Männer aus seinem eigenen Büro und dem des Sheriffs, freiwillige Feuerwehrleute, besorgte Bürger, Studenten vom Harris College, die in den Winterferien in der Stadt geblieben waren. In ihren Gesichtern sah er Entschlossenheit und Angst. Einer von ihnen war entführt worden, und sie waren hier, um ihn zurückzuholen. Mitch hätte gern geglaubt, daß ihnen das gelingen würde, aber seiner Erfahrung nach reichte Hoffnung bei weitem nicht aus.
Trotzdem nahm er sich zusammen und versuchte gute Miene zum
bösen Spiel zu machen. Er wandte sich an seine Truppen und gab Befehle, klang wie ein echter Anführer. Er kniff die Augen gegen das gleißende Licht der Scheinwerfer zusammen und hoffte, entschlossen und energisch auszusehen, nicht nur blind.
Die Kameras liefen bereits, waren nicht bereit zu warten auf den offiziellen Beginn der Pressekonferenz, wollten keine Sekunde des Dramas verpassen. Blitzlichter zuckten, die Zeitungsfotografen schossen Fotos von den Polizisten und der Menge. Die Reporter kritzelten. In einer der vordersten Reihen saß Paige Price, die langen Beine verschränkt, mit einem Notizbuch auf dem Schoß. Sie sah mit ernster Miene zu Mitch hoch, während der Kameramann niederkniete und eine Reaktionsaufnahme von ihr machte. Das Übliche.
Eine Karte vom Park County wurde auf die Leinwand projiziert, in Quadrate aufgeteilt durch die roten Linien, die Mitch und Russ Steiger um fünf Uhr in der Früh eingezeichnet hatten. Suchteams erhielten Nummern und einen bestimmten Bereich zugeteilt. Instruktionen wurden ausgegeben hinsichtlich der Vorgehensweise, wonach man Ausschau halten sollte, was den Leitern der Teams zu melden war. Mitch reichte das Mikro an Steiger weiter, der Befehle und Einzelheiten an die Deputys vom Sheriffbüro richtete, an die berittenen Freiwilligen und die Mitglieder des Snowmobileclubs, die die Felder und dichtbewaldeten Gebiete außerhalb der Stadt abgrasen würden.
Während die Handzettel an alle Anwesenden, inklusive der Presseleute verteilt wurden, erschien Joshs Bild auf der Leinwand. Jegliches Getuschel verstummte, das Rascheln von Papier erstarb. Die Stille, die das Surren der Videokameras sogar noch betonte, lastete wie ein Amboß auf den Anwesenden. Jedes Auge, jeder Gedanke, jedes Gebet, jeder Herzschlag richtete sich auf die Leinwand. Josh grinste sie mit seiner Zahnlücke an, mit seinen zerzausten braunen Locken. Jede Sommersprosse war ein Mal der Unschuld, ebenso ein Symbol der Knabenschaft, wie die Pfadfinderuniform, die er so stolz trug. Seine Augen strahlten, hocherfreut über all den Spaß, den das Leben noch zu bieten hatte.
»Das ist Josh«, sagte Mitch leise. »Er ist ein netter Junge. Viele von euch haben
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