Sünden der Nacht
Donald Duck und Neffen, ein kaputter Wecker, auf dem Jimmy Cricket saß mit seinen Heuschreckenhänden über den Ohren.
Der Wecker hatte Kyle gehört. Jedesmal, wenn er ihn sah, durchfuhr Mitch ein brennender Schmerz.
Er schlich ins Zimmer, schloß die Tür leise hinter sich und lehnte sich dagegen. Seine Tochter schlief in der Mitte des alten Doppelbettes, die Arme fest um ihren Teddybären geschlungen. So wie sie da schlafend lag und süße Träume träumte, war sie der Inbegriff von Kindheit. Ihr langes, braunes Haar war zu einem lockeren Zopf geflochten, der unter der Decke verschwand. Der gerüschte Kragen ihres Flanellnachthemds umrahmte ihr Gesicht mit den dunklen Wimpern. Ihr kleiner rundlicher Mund war zu einem perfekten O geformt, ihr Atem ging ruhig und regelmäßig.
Wenn er sie so sah – so ungeheuer verletzlich und kostbar -, übermannten ihn die Gefühle mit der Macht einer Flutwelle. Sie war sein ein und alles. Sie war der Grund, warum er dem Schmerz nie ein Ende gemacht hatte, nachdem man ihn Kyle und Allison genommen hatte. Seine Liebe zu ihr war so heftig, so tief, daß sie ihn manchmal mit Angst erfüllte. Und was er tun sollte, wenn er sie auch noch verlieren sollte, machte ihn wahnsinnig.
Er lüpfte vorsichtig die Schichten von Decken und Überwurf, und ließ sich langsam nieder, dann lehnte er sich gegen das Kopfteil aus geschnitzter Eiche. Jessie blinzelte und sah mit einem verschlafenen Lächeln zu ihm hinauf.
»Hallo Daddy«, nuschelte sie. Sie kroch mit ihrem Bären in seine Arme und kuschelte sich an ihn.
Mitch zog die Decken bis unter ihr Kinn und küßte sie auf den Kopf. »Hallo, Kuschelmaus.«
»Was machst du denn hier?«
»Dich liebhaben. Ist das okay?«
Sie nickte und bohrte ihr Gesicht in seinen dicken Pullover. Mitch umschlang sie liebevoll, lauschte, wie sie atmete und sog den Duft von Wärme und Babyschaumbad ein.
»Hast du den verlorenen Jungen gefunden, Daddy?« fragte sie mit schläfriger Stimme.
»Nein, Schätzchen«, flüsterte er durch den Kloß in seinem Hals.
»Peter Pan wird ihn nach Hause bringen.«
TAGEBUCHEINTRAG TAG 2
1. Akt: Chaos und Panik. Berechenbar und armselig.
Wir haben zugesehen, amüsiert von ihrem sinnlosen Drang der Eile.
Drauflosrasen mit halsbrecherischer Geschwindigkeit.
Im dunkeln tappen. Nichts finden außer ihrer eigenen Angst.
Aber kann man überhaupt Trost finden?
Der Mensch … liebt, was verschwindet;
Was bleibt da noch zu sagen?
Kapitel 9
TAG 2 7 Uhr 30, – 11 Grad
Das alte Feuerwehrhaus im Zentrum von Deer Lake platzte aus allen Nähten vor Polizisten, Freiwilligen, Medienleuten und Ortsansässigen, die aus Angst und morbider Neugier dabeisein wollten. Mitch traf ein, frisch geduscht und rasiert, gestärkt von einem riesigen Becher Kaffee, den er sich bei Tom Thumb geholt und unterwegs getrunken hatte.
Er hatte damit gerechnet, Chaos vorzufinden, sich aber gefragt, woher er die Geduld nehmen würde, damit fertig zu werden. Doch irgendwie besaß der ganze Irrsinn scheinbar eine gewisse Struktur. Einer der zwei Gemeinschaftsräume, die jetzt hauptsächlich als Kartenclub für ältere Bürger und für die Treffen des Landwirtschaftsclubs verwendet wurden, seit die Feuerwehr in modernere Quartiere am Ramsey Drive umgezogen war, war zur Einsatzzentrale umfunktioniert worden. Die Hotline-Telefone waren installiert – sechs von ihnen standen in regelmäßigen Abständen auf einer langen Tischreihe, an zweien telefonierten bereits seine Leute. An der gegenüberliegenden Wand standen Kopier- und Faxgeräte. An einem anderen langen Tisch stapelten Freiwillige die Handzettel mit Joshs Foto und genauer Beschreibung, die man während der Nacht abgezogen hatte.
Mitch ging weiter zu dem Zimmer am Ende des Korridors, wo weitere Fahnder Kaffee tranken und Doughnuts aßen. Dieser Raum würde als Versammlungsort und provisorisches Medienzentrum dienen. Die Wände waren modrig grün gestrichen – ein Sonderangebot aus Hanks Haushaltsladen von 1986. Die kränkliche Farbe paßte gut zum muffigen Geruch von altem Linoleum und Staub. Zwei Dutzend ausgeschnittene Hände aus Pappe dekorierten die Wand hinter dem Podium
im vorderen Teil des Raumes. Auf jede war der Eid des 4-H-Landwirtschaftsclubs mit Buntstift gekritzelt und jedes dieser makabren Meisterwerke war vom Künstler signiert und mit ihrem oder seinem Alter versehen.
Das Zimmer wimmelte von Reportern, Fotografen und Kameramännern von Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehstationen
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