Sünden der Nacht
füllten diesen Korridor Schwärme von Kindern wie Josh, genau wie seine Jessie. Es machte ihn stocksauer daran zu denken, daß sie alle von diesem Verbrechen berührt werden würden, ein Übergriff auf ihre Unschuld, wie von schmutzigen Fingern auf weißes Papier. Mitch machte sich nicht die Mühe, seine Jacke zuzuknöpfen, als er ins Freie trat, aber er kramte seine Handschuhe aus den Taschen und zog sie an. Der Tag war der Nacht gewichen.
Sicherheitsleuchten schienen auf die Backsteinwände der Schule und beleuchteten Teile des Parkplatzes.
Die Schule war 1985 gegründet worden, um die Kinder der geburtenstarken
Jahrgänge und der neuen Familien, die nach Deer Lake drängten, auszubilden. Das Gelände lag am Ramsey Drive, in einem neueren Teil der Stadt, nur zwei Straßen von der frisch eingerichteten Feuerwehrstation entfernt – weshalb der Unterricht zusammenbrach, wenn die Feuerwehr ausrückte. Der Parkplatz breitete sich vor Mitch aus, an zwei Seiten war er von dichten Kiefern eingesäumt. Hingegen erstreckte sich der Spielplatz unmittelbar nach Westen, über drei Morgen Land. Sehr praktisch für Eltern, die ihre Kinder abholen wollten – oder für jeden, der darauf aus war, ein Kind zu stehlen.
Jetzt sah Mitch überall die Risiken, das Potential der Gefahren, wo er vorher nur eine nette, ordentliche, ruhige Stadt wahrgenommen hatte. Das machte seine Stimmung noch düsterer. Er fischte die Schlüssel aus der Tasche und begab sich auf den Weg zu seinem Wagen.
Der Explorer stand alleine in der zweiten Reihe, knapp außerhalb der Beleuchtung. Mitch steckte den Schlüssel ins Schloß. In Gedanken war er bereits bei dem bevorstehenden Treffen und der Nacht danach. Er wollte es schaffen, bis acht Uhr bei seinen Schwiegereltern zu sein, bevor Joy Jessie in ihren Pyjama stecken konnte. Er wollte seine Tochter heute nacht bei sich zu Hause haben. Eine kurze Oase der Normalität, bevor ein neuer Tag des Irrsinns und der Frustration begann. Im Begriff, die Tür des Trucks zu öffnen, entdeckte er etwas aus dem Augenwinkel, was nicht dahingehörte, etwas auf der Motorhaube.
Noch während er sich umdrehte, setzte die Reaktion ein – der Adrenalinstoß, die Anspannung der Nerven, das Erwachen der Instinkte. Sein Herz hämmerte wie besessen, als er nach dem Spiralheft griff. Er packte es behutsam mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand an der Spirale und hob es von unten mit der Spitze seines rechten Zeigefingers hoch. Der Umschlag war dunkelgrün, mit einem Bild von Snoopy als Joe Cool, über dessen oberem Rand mit Filzstift ›Josh Kirkwood 3 B‹ geschrieben stand.
Mitch fluchte. Seine Hände zitterten, als er das Buch vorsichtig auf die Haube zurücklegte. Er beugte sich in den Truck und tauchte mit einer Taschenlampe sowie einem schmalen, goldenen Füller wieder auf. Mit Hilfe des Füllers schlug er das Notizbuch auf und blätterte es durch.
Nichts Bemerkenswertes, nur das Gekritzel eines kleinen Jungen. Zeichnungen von Rennautos und Raumschiffen und Sportidolen. Notizen über Kinder in seiner Klasse. Ein Junge namens Ethan, der in
der Musikstunde gespuckt hatte – Er hat lauder Brokken übber Amy Masons Schuhe gegotzt! Ein Mädchen namens Kate, das ihn bei seinem Schließfach küssen wollte – Bäh! Bäh! Bäh! Auf einer Seite hatte er sorgfältig das Logo der Minnesota Vikings nachgemalt, ein Trikot mit der Nummer zwölf und den Namen KIRKWOOD in Blockbuchstaben gezeichnet.
Die Träume und Geheimnisse eines kleinen Jungen. Und – vor der letzten Seite eingeschoben, die Nachricht eines Wahnsinnigen. ich hatt ein bißchen Kummer, geboren aus ein bißchen SÜNDE
Kapitel 11
Tag 2 20 Uhr 41, – 9 Grad
Hannah warf einen Blick auf das Notizbuch, wurde schneeweiß und ließ sich in den nächsten Stuhl fallen. Es war Joshs, keine Frage. Sie kannte es gut. Er nannte es ein ›Denkheft‹ und trug es immer bei sich – jedenfalls bis jetzt.
»Er hatte es verloren«, wisperte sie und strich mit den Fingern über den Plastikbeutel. Sie wollte das Buch berühren. Etwas von Josh. Etwas, das ihnen der Kidnapper zugeworfen hatte. Um anzugeben. Ein grausamer Beweis seiner Macht.
»Was soll das heißen, er hatte es verloren?« Mitch kniete sich neben sie, versuchte sie dazu zu bringen, ihn anzusehen und nicht das Notizbuch. »Wann?«
»Am Tag vor Thanksgiving. Er war in Panik. Ich hab ihm gesagt, er hätte es sicher in der Schule vergessen. Aber er hat geschworen, daß es dort nicht sein könnte. Wir haben das
Weitere Kostenlose Bücher