Sünden der Nacht
ihrem inneren Auge, während die fluoreszierenden grünen Zahlen auf der Uhr im Armaturenbrett eine weitere vergangene Minute anzeigten. Alleinsein war eben doch schlimm. Wie die meisten Polizisten bei diesem Fall hätte sie rund um die Uhr gearbeitet, wenn sie ohne Essen und Schlaf auskommen könnte; aber ihr Körper mußte aufgetankt werden. Also würde sie sich für ein paar Stunden von der Straße losreißen und im Bett liegen, ins Dunkle starren und über Josh grübeln, während die Uhr gnadenlos weitertickte. Und Mitch würde dasselbe machen.
»Wir könnten die kopierten Seiten ungestört durchgehen«, sagte sie.
»Haben Sie denn inzwischen Wasser und Strom?« fragte Mitch, dessen Gedanken eine ähnliche Richtung eingeschlagen hatten.
»Ich hoffe ja, aber als geborene Zynikerin habe ich sicherheitshalber schon mit Ihrem Handy eine Pizza bestellt, während Sie mit Hannah redeten.«
Er zog eine Braue hoch. »Polizeiausrüstung für private Zwecke mißbraucht, Agent O’Malley? Ich bin schockiert.«
»Diesen Bedarf einer Pizza betrachtete ich als polizeilichen Notfall, genau wie ich es dem Lieferjungen rate – wenn er keinen Ärger kriegen will.«
»Wo wohnen Sie denn?«
»867 Ivy Street. Lassen Sie mich bei meinem Wagen raus, dann fahr ich voran.«
»Wenn wir uns jetzt im Revier blicken lassen, müssen wir uns den Reportern stellen«, sagte Mitch. »Bei der nächsten dämlichen Frage spring ich einem ins Gesicht.«
»Dann frag ich wohl besser nicht, ob Sie lieber Pilze oder Pepperoni mögen.«
»Heute abend nehm ich alles, wenn es nicht lebendig ist oder Haare hat. Wir werden essen und uns diese Kopien ansehen. Mit ein bißchen Glück haben die Presseleute vielleicht aufgegeben, bis wir wieder die Zentrale anpeilen.«
Sie rollten an der Abzweigung zur Innenstadt vorbei. Mitch setzte den Blinker, als sie die Ivy Street erreicht hatten und parkte den Explorer am Randstein. Das zweistöckige Eckgebäude war ein riesiges viktorianisches Herrenhaus, das man in Wohnungen aufgeteilt hatte. Die rund ums Haus laufende Veranda war einladend beleuchtet, und im künstlichen Licht sah man nicht, wie dringend das Haus einen neuen Anstrich benötigte. An der Haustür hing noch ein Weihnachtskranz.
Sie stiegen die knarzende Treppe zum ersten Stock hoch und gingen den Korridor hinunter. Aus den Wohnungen waren Fernseher und Stimmen zu hören. Jemand hatte zum Abendessen Zwiebeln gebraten. Ein Mountainbike lehnte an der Wand, über dem Lenker klebte ein Zettel – ACHTUNG, AN SPRENGLADUNG ANGESCHLOSSEN. DIEBE – EUER RISIKO. Dann stiegen sie noch eine Treppe weiter und ließen die Nachbarn unter sich.
»Ich hab den ganzen zweiten Stock für mich«, erklärte Megan und kramte ihren Schlüssel aus der Jackentasche. »Es gibt nur eine Wohnung hier oben.«
»Wieso haben Sie sich diese ausgesucht und nicht in einem der Wohnblöcke?«
Die Antwort kam ein bißchen zu schnell und zu lässig: »Ich mag einfach alte Häuser. Sie haben Charakter.«
Ein Schwall von Hitze prallte ihnen entgegen, als die Tür aufging, und auf Knopfdruck wurde der Eingang taghell.
»Und siehe, es ward Licht und Strom!«
»Du lieber Himmel, hier muß es ja dreißig Grad haben!« sagte Mitch, schälte sich aus seiner Jacke und warf sie auf einen Stuhl.
»Zweiunddreißig«, keuchte Megan und drehte am Thermostat. »Muß
wohl ein Trick dabei sein. Ich hatte ihn auf zweiundzwanzig gestellt.« Sie zwinkerte Mitch zu, während sie ihren Parka auszog. »Das müßte Ihnen doch gefallen, Sie sind schließlich aus Florida.«
»Ich hab mich akklimatisiert, besitze Schneeschuhe und gehe Eisfischen.«
»Masochist.«
Sie warf den Stapel Fotokopien auf den Tisch und verschwand den Gang hinunter im Schlafzimmer, wie Mitch annahm. Er blieb in der Mitte des Wohnzimmers stehen und sah sich nach irgendwelchen Hinweisen auf die Persönlichkeit Megan O’Malleys um, während er die Ärmel hochkrempelte.
Küche und Wohnbereich gingen ineinander über, nur geteilt durch einen runden, alten Eichentisch mit verschiedenen antiken Stühlen, die nicht zusammenpaßten. Die Küchenschränke waren weiß gestrichen und sahen aus, als wären sie aus einem anderen alten Haus gerettet worden. Die Wände schimmerten zartrosa. Megan hatte sicher nicht die Zeit gehabt, sie selbst zu streichen, aber seiner Meinung nach paßte es zu ihr. Und sie würde es sicher abstreiten, wenn er ihr das sagte. Die Farbe war zu feminin, diese Seite von sich zeigte sie der Ö f-fentlichkeit
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